Schule aktuell
„Feldstudie“: Die Traktoren an der HTL Ried fahren sich wie von selbst
Schüler/innen der HTL Ried haben teilautonome Lenksysteme an Traktoren getestet. Der Lehrer Martin Anzengruber erklärt, was die Landwirtschaft der Zukunft bringen wird und wie seine Schüler/innen schon heute dafür gerüstet sind.
Florian Wörgötter - 17. März 2022
Eine Flugdrohne filmt von oben ein schneebedecktes Feld. Ihre Kamera zeigt parallel laufende Reifenspuren im Schnee, die präzise nebeneinander liegen wie auf dem Muster einer Tapete. Ihre Künstler: vier Traktoren der HTL Ried, die Martin Anzengruber und sein Agrartechnik-Team mit teilautonomen Lenksystemen ausgestattet haben.
Das Grundprinzip des teilautonomen Fahrens: Der Bauer/die Bäuerin sitzt am Lenker, muss diesen aber nicht mehr bedienen, denn der Traktor fährt automatisch eine programmierte Route, die per Satellitensignal gesteuert wird. Greift man ans Lenkrad, übernimmt der Mensch wieder das Kommando.
„Ich kann ein Lenksystem zwanzigmal erklären, doch es begeistert meine Schüler/innen erst richtig, wenn sie es an echten Maschinen ausprobieren können. Das ist für mich High-End-Unterricht“, sagt Anzengruber stolz. Ebenso erfreut den Oberösterreicher die pfeilgerade Leistung der Traktoren, die nur maximal 2,5 Zentimeter von der Geraden abgewichen sind.
Der promovierte Geografie- und Mathematiklehrer hat an der HTL Ried vor fünf Jahren den Schulschwerpunkt Agrar- und Umwelttechnik ins Leben gerufen, um den Umweltschutz im Kontext der Agrartechnik zu beleuchten. Wie ein Drittel seiner Schüler/innen kommt auch er aus der Landwirtschaft, daher sitzt er natürlich selbst auf dem Traktor – doch steuern muss er ihn nicht wirklich.
Teilautonomes Traktorfahren
Das Lehrerteam widmet seinen Unterricht schon länger dem teilautonomen Traktorfahren, weil es die Schüler/innen fasziniert und auch motiviert. „Die Jungen wollen mit einer modernen Landtechnik arbeiten. Eine solche kennen sie schon aus dem Computerspiel Landwirtschafts-Simulator.“ Dem Schweizer Computerspiel über die Arbeit von Bauern und Bäuerinnen gelang 2008 ein Überraschungserfolg. Heute zählt die jährlich adaptierte Simulationsspiel-Reihe zu den meistverkauften Computerspielen in Deutschland und der Schweiz. Seit 2019 messen sich professionelle „E-Farmer/innen“ sogar in einer eigenen E-Sports-Liga.
Da Corona wichtige Exkursionen für die HTL Ried verhinderte, hat Anzengruber kurzerhand die Maschinen an die Schule geholt. An einem sonnigen Schneetag hat sein Team mit vier Traktoren eine „Feldstudie“ gestartet. Im Praxistest haben seine Schüler/innen drei Typen von teilautonomen Lenksystemen getestet:
- ein halbautonomes Lenksystem zum Nachrüsten, bestehend aus einem motorisierten Lenkrad, einem Terminal, Sensoren und einer GPS-Antenne.
- ein vollverbautes Lenksystem am High-End-Schultraktor, bei dem die Vorderreifen lenken, das Lenkrad aber stillsteht.
- ein selbstgebasteltes Nachrüstsystem mit einem Reibrad-Motor, das mit einem 3D-gedruckten Zahnkranz auf das Lenkrad geklappt wird. Um diese Funktionsweise spielerisch zu veranschaulichen, wurde mit diesem Lenksystem schon ein Tret-Traktor nachgerüstet.
Weniger Ressourcen, mehr Zeit
Was die teilautonomen Lenksysteme der Landwirtschaft für die Praxis bringen? Anzengruber erklärt die Vorteile: Zum einen kann eine zentimetergenaue Feldarbeit auch Saatgut und Dünger einsparen. Da beim kilometerlangen Hin- und Herfahren die Spuren weniger überlappen, reduzieren sich langfristig auch die Überfahrten, der Treibstoff und der Zeitaufwand.
Zum anderen müssen sich die Fahrer/innen weniger auf das Lenken konzentrieren, was laut einer Studie 60 Prozent ihrer Aufmerksamkeit beansprucht. Dadurch bleibt mehr Zeit, auf die Anbaugeräte zu hören, um auftretende Schäden frühzeitig zu erkennen oder die Qualität der Arbeit zu kontrollieren. Gerade Nebenerwerbsbauern und -bäuerinnen, die nach ihrem Arbeitstag auch im Dunkeln auf dem Feld unterwegs sind, könnten präziser fahren und würden weniger schnell ermüden.
Etwa bei der nun anstehenden Maisaussaat seien Spurführungssysteme bereits häufig im Einsatz, meint Anzengruber. Dass sich das satellitengestützte Fahren noch schneller verbreite, liegt auch daran, dass das zum Satellitensignal (GPS oder Galileo) benötigte Korrektursignal (RTK-Signal) seit letztem Jahr kostenlos empfangbar ist. Das Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus möchte damit die Digitalisierung der Landwirtschaft beschleunigen.
Smarter Pflanzen- und Umweltschutz
Für Anzengruber bilden autonome Lenksysteme auch die Basis für einen smarten Pflanzenschutz. Statt flächendeckender, chemischer Bearbeitung geht der Trend in Richtung punktueller Bekämpfung von Unkräutern und Beikräutern. Diese soll noch effizienter gelingen, indem das Feld per Satellitendaten, Drohnenfotografie oder Echtzeitmessung über Traktor-Kameras gescannt wird. Diese Infos könnten live und direkt an das Terminal des Traktors und seine Anbaugeräte wie die Feldspritze geschickt werden.
Künstliche Intelligenz selektiert dann das Beikraut von Nutzpflanzen und appliziert das Spritzmittel dort, wo es auch nötig ist. „Die moderne Landtechnik kann so den perfekten Umweltschutz bieten, indem sie 80 bis 90 Prozent an Spritzmittel einsparen kann“, beschreibt Anzengruber die Chancen einer „sich gerade entwickelnden Szene“.
Denkbar sei künftig auch, dass landwirtschaftliche Maschinen immer kleiner werden und autonom im Schwarmsystem zusammenarbeiten, um das Säen zu übernehmen, das Unkraut zu bekämpfen oder den Boden zu bearbeiten. Auch die Elektrifizierung der großteils hydraulischen Geräte wird ein wichtiges Thema werden.
Melkroboter und Agro-Start-ups
In der Innenwirtschaft auf Bauernhöfen sei der Fortschritt bereits größer: So würden Melkroboter bereits automatisch die „gute“ von der „schlechten“ Milch trennen und automatische Fütterungsanlagen den Kühen ihre Mahlzeiten servieren. „Die Kritik lautet oft, dass die Mensch-Tier-Beziehung entfremdet wird. Doch ich denke, dass Landwirte und -wirtinnen durch Digitalisierung und Automatisierung sogar mehr Zeit fürs Tier haben“, meint Anzengruber.
Ein Vergleich zum Unterricht drängt sich auf, für den die Digitalisierung den Lehrenden auch mehr „Quality-Time“ mit ihren Schüler/innen verspricht. Was meint Anzengruber, der vor acht Jahren die Kreide gegen digitale Stifte und Tablet getauscht hat: Ist es richtig und wichtig, in der schulischen Ausbildung an der HTL Ried alles auf eine digitalisierte Landwirtschaft zu setzen?
„Natürlich wollen wir einen modernen High-End-Unterricht bieten. Das erwarten sich auch alle. Doch man muss auch lernen zu hinterfragen, was aus betriebswirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist. Nicht jeder Betrieb kann bei jeder Innovation dabei sein. Landwirte können aber vieles auch an Profis auslagern“, so Anzengruber. Gleichzeitig betont er, dass österreichische Start-ups im Agrarsektor bereits große Erfolge verzeichnen – sei es beim Erfinden von Großtraktoren mit Dockingstationen oder dem Neudenken von Bodenbearbeitungsgeräten.
Abschließend möchte sich Martin Anzengruber noch bei seinem Team an der HTL Ried bedanken – bestehend aus Albin Hartl, Bernhard Flatz, Martin Baldinger, Christian Weilhartner und Klaus Weilhartner.
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