Schule aktuell
Flexi-Klassen: Gemeinsam lernt jede/r so schnell sie/er kann
Die Praxismittelschule der PH Steiermark ermöglicht in Mehrstufenklassen das Lernen im eigenen Tempo. Lehrerin Laura Bergmann erklärt, wie „Flexi-Klassen“ personalisiertes Lernen mit digitalen Medien erfolgreicher machen.
Florian Wörgötter - 10. März 2022
Die städtischen Mittelschulen stehen vor einer Herausforderung, die nicht zu lösen ist, meint Laura Bergmann, Lehrerin an der Praxismittelschule der Pädagogischen Hochschule Steiermark: „Der Großteil ihrer Schüler/innen bringt große Defizite aus der Volksschule mit. Die Mittelschule soll ihnen Zeit geben, ohne Druck alles aufholen, um sie auf AHS-Reife zu bringen, damit sie dann eine weiterführende Schule besuchen können. In dieser Kombination kann das nicht funktionieren“, benennt Bergmann die Hintergründe der von ihr initiierten Flexiblen Eingangsstufe, kurz: Flexi-Klassen.
Um auch allen Schülerinnen und Schülern eine solide Basis für ihre Zukunft bieten zu können, brauche es eine zeitliche Flexibilisierung im Unterricht. Denn nur, wer seine Defizite aufholt anstatt sich durchzuwurschteln, könne erfolgreich aus der Mittelschule rausgehen und danach frei über seine Laufbahn entscheiden.
Unterricht in Mehrstufenklassen
Daher werden an der Praxismittelschule die ersten zwei Jahrgänge zu einer altersgemischten Mehrstufenklasse zusammengefasst. Das Grundprinzip: Der Lehrplan der ersten beiden Jahre gliedert sich in diverse Module. Jede/r Schüler/in durchläuft die Lernziele beider Schulstufen im individuellen Tempo. Also: Lernt jemand schneller, dann soll er auch schneller das nächste Modul beginnen und hat sogar die Chance, bereits nach dem ersten Schuljahr in die siebte Schulstufe aufzusteigen.
Hat jemand bereits Defizite aufgebaut, bekommt er/sie auch die Zeit, sie mit individueller Betreuung auszugleichen. Wer die Lernziele am Ende der zweiten Klasse noch nicht erreicht hat, müsste im traditionellen System die Klasse wiederholen; in der Flexi-Klasse hingegen bleibt man noch ein drittes Jahr im Klassenverband – ehe man in die siebte Schulstufe aufsteigt.
Super-Flexi statt Sitzenbleiben
Der Vorteil des dritten Flexi-Jahres: „Im klassischen System sind Repetentinnen und Repententen nach einem halben Jahr meist wieder ganz unten, weil sie aus ihrer Lernumgebung rausgerissen wurden, sich stigmatisiert fühlen und sich auf neue Lehrende einstellen müssen. Außerdem wiederholen sie vieles, das sie bereits können“, sagt Bergmann. Im Mehrstufensystem hätten die liebevoll „Super-Flexis“ genannten Schüler/innen weniger Druck, keine Unterbrechungen, arbeiten im selben Gefüge und haben mehr Zeit, sich zu verbessern.
„Unsere Erfahrung zeigt, dass ein hoher Prozentsatz in der dritten und vierten Klasse gute Schüler/innen werden“
„Unsere Erfahrung zeigt, dass ein hoher Prozentsatz in der dritten und vierten Klasse gute Schüler/innen werden“, sagt Bergmann. Das belegt zum einen die begleitende Forschung der PH Steiermark, zum anderen die informelle Kompetenzmessung. Demnach liegen die Flexi-Klassler/innen in den drei Hauptfächern Deutsch, Englisch und Mathematik deutlich über dem Österreich-Schnitt.
Fortschritt mit digitalem Lernen
Unterstützt werden Lehrende im Unterricht von einer digitalen Lernplattform (Moodle), die auch schon vor Corona eingesetzt wurde. Dort erfahren die Schüler/innen ihre Lernziele, erhalten ihre Unterlagen auf dem Tablet und arbeiten großteils selbständig, aber auch in Kleingruppen an den einzelnen Modulen. Die Arbeitsaufgaben stützen sich teils auf das Schulbuch, teils sind sie vom Lehrpersonal eigens entwickelt worden.
Ein digitaler Fortschrittsbalken zeigt den Lehrpersonen in Echtzeit, wer welche Aufgaben wie erfolgreich erledigt hat und wer bei welchen Übungen noch Hilfe braucht. Am Ende jedes Moduls stehen mehrere Pretests, die „stressfrei“ auf einen Abschlusstest vorbereiten sollen.
Von der Klassenlehrerin zum Coach
Wie die Flexi-Klassen die Arbeit der Lehrkräfte verändert hat? „Ich habe eigentlich immer Einzelunterricht“, sagt Bergmann, die seit sieben Jahren am Konzept, den Modulen und den Inhalten feilt. „Da die Inhalte nun stehen, konzentriert sich meine Vorbereitung nur mehr auf den Fortschrittsbalken, der mir zeigt, wer morgen was benötigt“.
Zum Beispiel: Diese Schüler/innen kommen zur „Tea and Talk“-Sprecheinheit, andere arbeiten im Grammatik-Buch weiter, der eine recordet im Radiostudio und die andere absolviert schon den Abschlusstest. „Ich unterrichte keine Klasse mehr, sondern viele einzelne Schüler/innen. Man spürt seine eigene Wirksamkeit mehr, weil man näher an jeder/m Schüler/in ist und mehr Zeit hat, mit ihnen einzeln zu reden.“
„Ich unterrichte keine Klasse mehr, sondern viele einzelne Schüler/innen. Man spürt seine eigene Wirksamkeit mehr, weil man näher an jeder/m Schüler/in ist und mehr Zeit hat, mit ihnen einzeln zu reden.“
Außerdem teilen sich in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch zwei Lehrende die Klasse im Teamteaching. Da an der Praxismittelschule derzeit zwei Flexi-Klassen mit jeweils 23 Schüler/innen geführt werden, werden diese in den Hauptfächern zeitgleich von vier Lehrenden unterrichtet. Die Klassentüren stehen offen, jede Lehrkraft kümmert sich um ein anderes Modul und die Schüler/innen wechseln nach Bedarf die Räumlichkeiten. In den Nebenfächern werden entweder beide erste Klassen gemeinsam unterrichtet oder sie bleiben im Mehrstufensystem.
Noten kontraproduktiv
Wie in den Flexi-Klassen die Leistung der Schüler/innen beurteilt wird? „Am liebsten ohne Noten, denn diese sind für unser Vorhaben kontraproduktiv“, meint Bergmann. „Das ideale System für uns wäre, wenn wir keine Schularbeiten schreiben müssten, sondern nur unsere Abschlussarbeiten machen, die derzeit nur als Mitarbeitseinträge gelten“.
Die Kinder erhalten ein Leistungsblatt mit den erreichten Modulen und dem abgeschlossenen Level, der in Gold-, Silber- oder Bronzemedaillen ausgewiesen wird. Der Fokus der Rückmeldungen liegt stark darauf, was sie erreicht haben, was sie können und welche Dinge sie auf hohem Niveau abgeschlossen haben.
Flexi-Klassen an der eigenen Schule
Was die Schulleitung anderen Schulen empfehlen würde, um innovative Schulentwicklungsprojekte auch selbst umsetzen zu können? „Hilfreich ist, wenn innovative Ideen aus dem eigenen Lehrkörper kommen“, meint Direktorin Andrea Wagner. „Das Wesentliche ist, dass die Schulleitung diese Initiativen auch unterstützt und fördert, begleitet und evaluiert. Dafür braucht es einen langen Atem, denn man muss die Dinge wachsen lassen.“
Wer sich für das Grazer Modell des flexiblen Lernens interessiert, ist eingeladen, die Schulleitung für einen Besuch zu kontaktieren. Im nächsten Schuljahr sollen zum Unterricht in Flexi-Klassen auch wieder Fortbildungen an der PH Steiermark angeboten werden.
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