Schule aktuell
Dokumentationsarchiv: „Österreich war kein Volk des Widerstandskampfes“
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes beobachtet den Nationalsozialismus bis heute. Stephan Roth erklärt, was Schulen ein Besuch der Gedenkstätten bringt und warum Österreich kaum Widerstand in der NS-Zeit leistete.
Florian Wörgötter - 4. Juni 2021
Seit dem Jahr 1963 fördert das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen. Bibliothekar Stephan Roth hortet die Quellen, die Österreichs bescheidenen Widerstand in der NS-Zeit belegen. Außerdem führt er durch die hauseigenen Ausstellungen und Gedenkstätten. Nähere Infos im WissenPlus hier.
Im Gespräch erklärt Roth, warum Österreich damals kein Biotop des Widerstandes war, wie Propaganda-Plakate, NS-Stickeralben und Volksempfänger die Bildungsarbeit erleichtern und weswegen ein „Schlussstrich“ auch für künftige Generationen keine Option sein kann.
Was jetzt: Herr Roth, im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes vermitteln Sie historische Fakten mit Bezügen zur Gegenwart. Was konkret verstehen Sie unter historisch-politischer Bildungsarbeit?
Stephan Roth: Es geht in dieser Arbeit seit etwa 20 Jahren darum, eine Handhabe zu geben, wie man mit der Zeit des Nationalsozialismus umgeht, wenn es keine Zeitzeugen und -zeuginnen mehr gibt. Die wenigen noch lebenden haben nur kindliche Erinnerungen an den Nationalsozialismus.
Für die Schüler/innen von heute ist diese Zeit emotional oft genauso entfernt wie der Erste Weltkrieg oder der Dreißigjährige Krieg. Insofern ist es ganz wichtig, Methoden und Techniken zu finden, um Wissen über diese Zeit an kommende Generationen weiterzugeben, damit auch sie daraus Lehren für ihre Zukunft ziehen können.
Was sagen Sie einem Jugendlichen, der die Meinung vertritt, seine Generation habe mit den Verbrechen seiner Urgroßväter nichts mehr zu tun und es sei Zeit für den berüchtigten „Schlussstrich“?
Die Diskussion um den „Schlussstrich“ wird seit den 1950er-Jahren geführt. Psychologisch war dieser Wunsch damals auch vollkommen nachvollziehbar. Heute würde ich dem jungen Menschen sagen: „Ja, es stimmt. Du persönlich hast keine Schuld daran.“
Doch diese Zeit prägt unser politisches System bis heute. Unsere Grundwerte der Zweiten Republik, unsere Demokratie sind die Antithese zum Nationalsozialismus. Ihr Ursprung gründet in der Überwindung des Nationalsozialismus. Daher ist es wichtig, diese Zeit allen Schülerinnen und Schülern weiterhin zu vermitteln und verantwortungsvoll mit diesem Erbe umzugehen.
Wie ausgeprägt ist heute das Verständnis für eine Kultur des Widerstandes?
Wenn ich heute eine Führung durch die Ausstellung im Dokumentationsarchiv mache, dann frage ich oft: Was ist Widerstand? Die meisten Schüler/innen antworten dann mit Lappalien wie Schuleschwänzen oder keine Hausaufgaben zu machen, wenn die Lehrenden ungerecht zu ihnen waren.
„Uns geht es darum, einen Bezug herzustellen, was es bedeutet, seine Meinung in einem System zu äußern, das mit lebensbedrohlichen Konsequenzen droht.“
Uns geht es darum, einen Bezug herzustellen, was es bedeutet, seine Meinung in einem System zu äußern, das mit martialischen Konsequenzen droht, die auch jungen Menschen das Leben kosten können.
Welche Geschichte würden Sie jungen Menschen erzählen, wenn Sie auf Zivilcourage und Widerstand in der NS-Zeit aufmerksam machen wollen?
Von all den faszinierenden Geschichten denke ich gerade jetzt an das „Rosenkranzfest“. Es hat nichts mit der Zivilcourage einer einzelnen Person zu tun, sondern war die zahlenmäßig größte Demonstration gegen den Nationalsozialismus in Österreich zwischen 1938 und 1945.
Als das Land 1938 in seine Hitler-Euphorie verfiel, hat sich die Kirche zunächst in einer feierlichen Erklärung der Bischöfe dem NS-Regime angedient. Da war es sehr spannend, dass im Oktober 1938 etwa 8.000 Jugendliche zu einer Rosenkranz-Jugendandacht im Stephansdom gekommen sind. Der offensichtlich geläuterte Kardinal Innitzer meinte, dass Jesus Christus der einzige Führer dieser jungen Menschen sei, was ein Gegenmodell zum Führerkult um Adolf Hitler war. Dass dann alle Jugendliche enthusiasmiert auf dem Stephansplatz demonstrierten, war ein unglaublich starker Akt. Denn in diesen Stunden gehörte der Platz nicht dem NS-System.
Dieses Aufbegehren blieb wohl nicht ohne Konsequenzen …
Die Hitlerjugend hat das erzbischöfliche Palais gestürmt. Die Einrichtung, Kruzifixe und Kunstgegenstände wurden zerstört. Ein Priester wurde aus dem Fenster geworfen, konnte aber überleben. Der Erzbischof musste sich verstecken, sonst wäre er gelyncht worden. Einige Priester sind nach Dachau gekommen. Einige Demonstranten wurden verhaftet und später in Konzentrationslagern interniert.
Wie groß war allgemein Österreichs Widerstand gegen den Anschluss an Nazideutschland?
Man muss verstehen: Österreich war kein Volk der Widerstandskämpfer/innen. Der weltanschauliche Duktus in allen politischen Parteien war mehr oder weniger deutschnational. Also die Vorstellung eines Anschlusses an Deutschland – nicht an Hitler-Deutschland, sondern an die Weimarer Republik – war zu Beginn der Ersten Republik parteiübergreifend vorhanden, wurde dann aber verboten. Ein positives Gefühl zum Staat Österreich war also nicht von vornherein gegeben.
„In Österreich war Widerstand gegen die Nazis ein extremes Minderheitenprogramm.“
Beim Anschluss im Jahr 1938 wurden die Deutschen daher nicht als Fremde wahrgenommen. Grosso modo war die Einstellung zu ihnen positiv. Hingegen wurde in Frankreich die deutsche Wehrmacht als Feind, als Eindringling wahrgenommen, weshalb sich mit der „Resistance“ ein nationaler Schulterschluss bilden konnte, wie etwa auch in Italien oder den Niederlanden. Österreich war kein Biotop, in dem die Leute gegen die Nazis kämpfen wollten; Widerstand war ein extremes Minderheitenprogramm.
Was verraten die Opferzahlen über den österreichischen Widerstand in der NS-Zeit?
Die größte vom Nationalsozialismus betroffene Opfergruppe war die jüdische Bevölkerung mit etwa 65.000 ermordeten Menschen. Die zweitgrößte Gruppierung waren die sogenannten „Euthanasie-Toten“; 25.000 Menschen sind wegen gesundheitlicher Defizite oder, weil sie als „Asoziale“ bezeichnet wurden, in Anstalten umgebracht wurden. Die Bevölkerungsgruppe der Roma und Sinti wurde mit 9.000 bis 10.000 Toten fast zur Gänze ausgelöscht.
Darauf folgen die rund 9.500 Opfer politischer Verfolgung, darunter die klassisch als Widerstandskämpfer/innen verstandenen Menschen, aber auch die lange nicht anerkannten Deserteure. Im Vergleich zu den Mitgliederzahlen der NSDAP – zwischen 600.000 und 700.000 – sind das in Österreich sehr wenig. Der Widerstand dieser 9.500 Menschen ist jedoch unglaublich hoch einzuschätzen, denn viele von ihnen fielen nicht in das Verfolgungsschema der Nazis. Sie hätten große Chance gehabt, diese Zeit unbehelligt zu überleben.
In Ihrer Vermittlung setzen Sie auf interaktives Lernen, das die Teilnehmer/innen einbindet. Wie lassen Sie Schüler/innen partizipieren?
Unsere Ausstellung im Dokumentationsarchiv ist ein 180 m² großes begehbares Buch, das unser gesamtes Arbeitsfeld abdeckt. Wir versuchen uns beim Gestalten der Führung möglichst an die Wünsche der Schulen anzupassen, um die Schüler/innen auch da abholen zu können, wo sie stehen. Grundsätzlich versuchen wir einen niederschwelligen, dialogorientierten Zugang zu finden, der über das Vermitteln von Zahlen, Daten und Fakten hinausgeht.
Zum Beispiel zeigen wir Schüler/innen ein großes Propaganda-Plakat, auf dem ein muskelbepackter Nationalsozialist von einer Schlange umwickelt wird – ein eindeutig antisemitisches Stereotyp. Die Schüler/innen dürfen frei assoziieren und meist bringen sie die religiösen Aspekte auf den Punkt, die auch die Macher/innen damals intendiert haben. So kann man sehr schön aufarbeiten, dekonstruieren und verständlich machen, was dahinter steckt.
Oder wir zeigen ihnen den Wahlzettel zur Volksabstimmung nach dem Anschluss vom 10. April 1938, bei der kein Wahlgeheimnis mehr gewährleistet war und viele von der Wahl ausgeschlossen wurden. Das „Ja“ steht groß im Zentrum, am Rande versteckt sich ein kleiner Kreis mit einem „Nein“. Außerdem dürfen die Schüler/innen Sticker an jene Exponate kleben, die sie besonders bewegen – und dann reden wir darüber.
Ihrer Erfahrung nach: Was interessiert die Jugendlichen am meisten?
Zahlen wie der Mord an sechs Millionen Juden sind sehr abstrakt. Einen Aha-Effekt erzeugen eher Alltäglichkeiten wie die Propaganda-Sticker des Zigarettenbild-Verlages, die mit heutigen Fußballstickeralben vergleichbar sind. Jugendliche konnten beispielsweise Bilddoubletten tauschen – tausche Panzer gegen Kriegsflugzeug oder einen Hitler gegen zwei Göbbels. So etwas schafft Identikation.
Sie schlucken auch, wenn sie hören, dass ein 18-jähriges Mädchen aus Österreich für das Anfertigen eines Flugblattes enthauptet wurde. Man muss nicht mit Sophie Scholl oder Anne Frank kommen, den unter Anführungszeichen „Popstars“ der Erinnerungskultur. Es geht auch um jene Schicksale, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt sind.
Was erklären Sie jungen Menschen zum Medienkonsum in der NS-Zeit?
Wir haben zum Beispiel einen alten Volksempfänger und reden darüber, warum Radio damals ein so beliebtes Unterhaltungsmedium war. Das vordergründige Ziel der günstigen Volksempfänger war jedoch, den Menschen über die Unterhaltung auch politische Propaganda vermitteln zu können. Wir ziehen den Vergleich, welche Rolle diese Einflussnahme auch heute noch in den Medien des Internets spielt, wo es auch um die Bindung an Marken und Konsumprodukte geht.
Auch die „Wochenschau“ – die damalige „Zeit im Bild“ – war ein Nachrichtenformat, das vor Kinofilmen genutzt wurde, um über die Unterhaltung Politik zu vermitteln. In dieser Werbesendung wurde gezeigt, wenn etwas gebaut und eröffnet wurde, damit die Leute sehen konnten, hier entsteht ein neues Deutschland, das nach vorne schaut, die Demütigungen des Ersten Weltkriegs vergessen macht und eine Rolle in der Welt hat. Der Unterhaltungsfilm danach verfolgte genauso die propagandistische Linie.
Diese Themen gehen Jugendlichen womöglich unter die Haut. Wie sollten Lehrende einen Besuch in einer Gedenkstätte vorbereiten bzw. nachbereiten?
Mit einem Besuch in einer Gedenkstätte oder im Dokumentationsarchiv allein ist noch nichts gewonnen. Es geht darum, das Erfahrene einzubetten, weil ein Besuch oft überfordert und Schüler/innen ihre neuen Emotionen noch nicht einordnen können.
„Mit einem Besuch in einer Gedenkstätte allein ist noch nichts gewonnen. Es geht darum, das Erfahrene einzubetten.“
Am besten unterfüttert man Schüler/innen mit Fakten im Vorfeld und in der Nachbereitung. Doch wir wissen, dass in einer Wochenstunde Geschichte dafür nur in den seltensten Fällen die Zeit vorhanden ist.
Unterstützen Sie Schüler/innen auch bei ihrer vorwissenschaftlichen Arbeit?
Selbstverständlich. Die Schüler/innen von heute sind die Wissenschafter/innen von morgen. Und es kann gar nicht früh genug damit begonnen werden, dass wir uns mit ihnen bekannt machen. Unser Archiv ist von Montag bis Donnerstag von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Wir beschäftigen auch jedes Jahr 40 Praktikanten und Praktikantinnen. Doch wir unterstützen auch Menschen, die Informationen über Angehörige suchen oder mehr über ihre historischen Nachbarn erfahren wollen.
Im aktuellen WissenPlus erfahren Sie nähere Infos zum Besuch in einer der Gedenkstätten des DÖWs und wie Sie Ihre Schulklasse darauf vorbereiten.
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