Schwerpunkt: Orientierung

Allianz Bildungsmedien: „Die Technik darf die Didaktik nicht diktieren“

Markus Spielmann ist Präsident der Allianz Bildungsmedien Österreich. Im Interview spricht er über die hohen Qualitätsansprüche an Lernmedien, was diese digital können müssen und wohin sich das Schulbuch entwickeln sollte.

Florian Wörgötter - 13. Oktober 2022

Hölzel Journal | Markus Spielmann | Allianz Bildungsmedien Österreich | © Fotoservice / Hoermandinger

Die Allianz Bildungsmedien Österreich (ABÖ) ist ein Zusammenschluss professioneller Bildungsmedienanbieter in Österreich. Ihr Präsident Markus Spielmann erklärt im Gespräch, was qualitätsgesicherte Bildungsmedien auszeichnet und wie der Staat einen einheitlichen Zugriff für Schüler/innen gestalten sollte.

Herr Spielmann, wie können Bildungsmedien den heutigen Ansprüchen der Schüler/innen gerecht werden?

Markus Spielmann: Schüler/innen wie auch Lehrende sind mit den heutigen medialen Angeboten völlig anders sozialisiert. Lernmedien müssen diese hohen medialen Erwartungshaltungen erfüllen. Es darf in der Schule keinen Unterschied zu anderen medialen Angeboten geben. Ein Video soll nicht bloß nur Bewegtbild sein, sondern muss den Qualitätsansprüchen entsprechen, die man aus anderen Medien kennt. Das gilt ebenso für Lernspiele oder Audioaufnahmen beim Spracherwerb.

„Bildungsmedien müssen die Qualitätskriterien auf dem Niveau aller anderen medialen Angebote erfüllen.“

Genau das ist im Augenblick auch so anspruchsvoll. Beim Schulbuch sind wir häufig dadurch geprägt, dass Bildung bestimmten „hehren“ Ansprüchen entsprechen muss – oder man sagt wiederum: Für die Schule genügt das schon. Bildungsmedien dürfen nicht abgewertet sein im Anspruch, sondern müssen die Qualitätskriterien auf dem Niveau aller anderen medialen Angebote erfüllen.

Welche Medien und Formate sehen Sie als modern für die Schule?

Primär geht es weniger um unterschiedliche mediale Formate, sondern um den Inhalt: Welche Übungsformate entsprechen am besten einem Lernziel? Womit erreiche ich am meisten bestimmte Anforderungen? Das kann völlig unterschiedliche Medien zur Folge haben.

Ein Lexikon in Buchform wird kaum mehr jemanden reizen, wenn multimediale Features wie Suchfunktion und Aussprachehilfen fehlen. Wenn es aber um die Vermittlung von Fähigkeiten wie die manuelle Handhabung von Zirkel und Geodreieck geht, kann das ein Programm nur unzureichend ersetzen.

Wann entfalten digitale Bildungsmedien ihr volles Potenzial?

Digitale Formate und Technologien bringen Vorteile, wo Automatisierung möglich ist, wo Monitoring oder Statistik im Hintergrund eine Rolle spielen – und zwar für Lehrende wie Schüler/innen. Beim Wiederholen bieten sich Lernspiele und automatisierte Feedback-Strukturen hervorragend an, weil sie motivieren, gleiche Dinge möglichst oft zu machen, um eine Routine aufzubauen.

Die Aufgabe dabei ist, nicht entweder digital oder analog zu denken, sondern welche medialen Formate für welche Aufgabenstellungen am geeignetsten und zielführend sind. Entscheidend bleibt immer die Usability, die Anwendbarkeit und Brauchbarkeit sowie der Mehrwert der didaktisch-pädagogischen Fragestellung.

Markus Fischer von der Online-Lernplattform chabaDoo kritisiert in einer Aussendung der Allianz Bildungsmedien, dass die Möglichkeiten der digitalen Tools noch zu wenig ausgeschöpft werden. Er fordert „veränderte Lernsettings und den Zugang zu passenden Tools und Inhalten über die Schulbuchaktion“. Wie konkret müssten diese Lernsettings aussehen?

Es geht um technologische Voraussetzungen in der Hard- und Software-Ausstattung, wo der Staat ja aktuell schon viel gemacht hat, etwa mit den Laptops/Tablets für die Sekundarstufe I. Doch das ist nur der Versuch, die Werkzeuge bereitzustellen. Auch Bildungsunternehmen stellen nur Instrumente zur Verfügung. Wesentlich wichtiger ist es, die Lehrer/innen dorthin zu entwickeln, dass sie diese Instrumente sinnvoll nutzen können.

„Wesentlich wichtiger ist es, die Lehrer/innen dorthin zu entwickeln, dass sie diese Instrumente sinnvoll nutzen können.“

Auch die Administration spielt eine große Rolle in diesem breit angelegten Veränderungsprozess, der einfach seine Zeit braucht. Aber wir sind auf einem guten Weg, doch noch lange nicht am Ziel. Und: Die großen Revolutionen sind meistens mit ihrer Ankündigung verstummt; das Ganze muss langsam von unten her wachsen.

Welche „Revolutionen“ meinen Sie?

In Südkorea hat man bereits 2014 angekündigt, dass es in drei Jahren keine analogen Materialien mehr geben wird. Auch in Kalifornien, Katalonien oder Uruguay wollte man nur mehr auf digital setzen. Es waren hoffnungsvolle Versuche, die aber letztendlich alle gescheitert sind.

Wo die Digitalisierung relativ gut funktioniert, hat sie sich in einem langfristigen Prozess entwickelt. Dänemark oder Estland haben bereits vor 15 Jahren damit begonnen, was wir seit wenigen Jahren umsetzen. Es müssen ganz viele Grundvoraussetzungen erfüllt werden, bevor man überhaupt ideale Lernsettings aufbauen kann.

Was wäre für ein ideales Lernsetting besonders wichtig?

Es braucht das Zusammenspiel von Staat, öffentlicher Hand, Verwaltung, privaten Entwickler/innen, Bildungsanbieter/innen, Lehrenden sowie den Elternhäusern samt Kindern. Digitale Unterrichtsgestaltung wird nachweislich auch dann erfolgreich implementiert, wenn ein Identifikationsmanagement für Lehrende und Schüler/innen aufgesetzt wird. Das bedeutet: Jede Schülerin/jeder Schüler hat eine ID, mit der sie/er Zugang zu diversen Plattformen und Angeboten von diversen Anbieter/innen hat – in welcher Institution und in welchem Kontext auch immer sie/er sie nutzt.

Private Institutionen haben das immer wieder versucht, scheitern aber an der DSGVO, die vor allem die Pflichtschüler/innen unter 14 Jahren schützt. Der Staat hat die Aufgabe, ein Identitätsmanagement aufsetzen, das er verantwortet und den Lehrenden und Schulklassen überall zugänglich macht – und: das auch die Anbieter/innen von Bildungsplattformen nutzen können. Ein solches Modell wurde eben in den skandinavischen Ländern erfolgreich umgesetzt. Und ab diesem Zeitpunkt – und das belegen Studien – haben diese Angebote funktioniert.

Wie steht’s um die Entwicklung einer solchen ID für Schüler/innen in Österreich?

Die Notwendigkeit dafür wurde bereits erkannt. Aber in der Umsetzung sind wir noch nicht so weit, wie wir sein sollten. Dieses Identifikationsmanagement ist noch zentraler als die Bereitstellung von Hardware. Der Staat sollte nicht nur Glasfaserkabel verlegen, sondern auch die Möglichkeit bieten, dass Schüler/innen sich DSGVO-konform jederzeit mit einer einzigen ID authentifizieren können. Und diese darf nicht in unterschiedlicher Form bei jedem individuellen Anbieter liegen, sondern man braucht eine generische ID, mit der alles angesprochen werden kann.

Im Schuljahr 2021/22 haben laut Bildungsministerium alle Schulen 8 Millionen Print-Schulbücher sowie in der Sekundarstufe I und II 1,3 Millionen E-Books Plus bestellt. Zusätzlich wurden 3,2 Millionen E-Books als Ergänzung zu Print-Schulbüchern mitgeliefert. In der Schulbuchaktion 2022/23 gab es erstmals die Möglichkeit, das E-Book Plus ohne Print-Variante zu bestellen. Kennen Sie die Zahlen?

Es gibt keine offizielle Statistik, doch die Größenordnung liegt sicherlich im einstelligen Prozentbereich. Das war auch nicht anders zu erwarten. Warum sollte jemand ein Schulbuch nur in der digitalen Variante bestellen, wenn er fast zum gleichen Preis Buch und E-Book bekommen kann? Außerdem: Wie können Schulen denn wirklich garantieren, dass sie E-Books jederzeit einsetzen können? Was tun bei Stromausfall oder überlastetem Internet?

Dennoch dominiert unter den Schulbuch-Bestellungen bei weitem das gedruckte Schulbuch. Ist der Hype um digitale Bildungsmedien zu groß? Oder ziehen die Schulen nur noch nicht mit?

Es hat weder einen Hype noch große Ablehnung gegeben. Der Zugang zu den Lernszenarien ist sehr pragmatisch. Die aktuelle Ausstattung und Anwendung von digitalen Lernmedien an den Schulen erlaubt ein idealtypisches Blended Learning – also die Kombination aus gedruckten und digitalen Angeboten je nach Lernszenario.

„Der nächste Schritt ist, „Digital First“ zu denken und sich vom Buchformat zu lösen.“

Natürlich ist auch ganz klar: Die Weiterentwicklung von digitalen Lernmedien muss konsequenterweise über das Format des digitalen Schulbuchs hinausgehen. Es war ein logischer Schritt, sich zuerst am Schulbuch zu orientieren, die Buchinhalte zu digitalisieren, interaktiv zu machen und anzureichern. Aber der nächste Schritt ist – und der wird ja auch schon vorbereitet –, „Digital First“ zu denken und sich vom Buchformat zu lösen. Es braucht plattformbasierte Lernmedien, die einfach mehr Möglichkeiten haben und sich nicht sklavisch am gedruckten Buch orientieren müssen.

Sehen Sie es als langfristiges Ziel, dass Schulbücher in Zukunft nur mehr digital erscheinen sollen?

Das sehe ich nicht als langfristiges Ziel. Es braucht abhängig von den jeweiligen Zielsetzungen und Inhalten das richtige Format. Ich würde nicht analog gegen digital ausspielen, sondern es wird immer beides nebeneinander existieren und in manchen Bereichen wird es nur mehr Digitales geben, in anderen Bereichen Mischformen. Es darf nicht die Technik das pädagogisch-didaktische Prinzip diktieren. Das pädagogisch-didaktische bleibt Priorität.

Eine Schulbuch-Produktion dauert mitunter Jahre. In der schnelllebigen digitalen Ära können publizierte Inhalte und Aufgaben bereits überholt sein. Was muss passieren, dass Schulbuchverlage ihren digitalen Content schneller aktualisieren können?

Die bisherigen rechtlichen Vorgaben der Schulbuchabteilung im Bildungsministerium müssen verbessert werden, darüber sind sich alle Stakeholder einig. Einer der größten Vorteile der Digitalisierung, die Chance der schnellen Aktualisierung, müssen wir auch für die Bildung nutzen können.

„Einer der größten Vorteile der Digitalisierung, die Chance der schnellen Aktualisierung, müssen wir für die Bildung nutzen können.“

Dafür brauchen wir neue Strategien und Möglichkeiten, die über das aktuelle Approbationsverfahren hinausgehen. Das kann – meiner Meinung nach – in Form einer Selbstverpflichtung der Bildungsanbieter/innen gewährleistet werden, um auch die notwendige Geschwindigkeit nicht zu verlieren.

Wenn man lediglich ein Kapitel im E-Book aktualisieren möchte, kann die Approbation dann nicht heute auch schon schneller verlaufen?

Es braucht einen „Aktualisierungsvorgang“ durch die gleiche Schulbuchabteilung. Und dafür bräuchte man neu entwickelte Regeln, die auch auf die digitalen Medien abgestimmt sind. Diese sind noch nicht vorhanden, doch sie werden gemeinsam mit der Schulbuchabteilung erarbeitet. Das ist ein unabdingbares Ziel.

Sie sind nicht nur Präsident der Allianz für Bildungsmedien Österreich, sondern auch Geschäftsführer des Helbling-Verlags. Wie gehen Sie persönlich mit den wirtschaftlichen Herausforderungen durch Teuerung und hohe Papierpreise um?

Es steht natürlich im Raum, dass wir nicht mehr zu den gleichen Preisen produzieren können wie noch vor zwei Jahren. Dementsprechend ist es für alle Bildungsunternehmen notwendig, letztendlich höhere Preise zu erzielen. Über eine kurz- und mittelfristige Finanzierung verhandeln wir als Bildungsunternehmen auch mit dem Staat. Themen wie Digitalisierung erfordern natürlich ein zusätzliches Investitionsvolumen, das aus den Erlösen, die man aus digitalisierten Medien derzeit erzielt, noch nicht erwirtschaftet werden kann.

Sie hatten kürzlich ein Gespräch mit ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek. Wie sehr bekennt er sich zum gedruckten Schulbuch?

Ich denke, dass im Bildungsministerium großer Konsens im Hinblick auf ein hybrides Angebot existiert. Der Wert eines gedruckten Schulbuches wird nach wie vor geschätzt. Das hat der Bildungsminister in dieser Form auch mehrfach deponiert.

Wie beurteilen Sie das soeben gestartete Pflichtfach „Digitale Grundbildung“?

Ich denke, dass es eine gute Idee ist, mit einer digitalen Grundbildung dieses riesige Thema an den Schulen zu verankern. Noch nicht ganz optimal ist, dass wir zu wenig ausgebildete Lehrende dafür haben, die das Fach geeignet unterrichten können. Aber auch hier soll sich ja noch einiges tun. In diesem Fall ist es sicher besser, früher etwas zu unternehmen als zu lange abzuwarten und nichts zu tun.

Zusammenfassend: Wo sehen Sie persönlich die Ideallösung für qualitätsgesicherte Bildungsinhalte an österreichischen Schulen?

Aktuell sehe ich die Idealform eindeutig in einer hybriden Variante zwischen gedrucktem Schulbuch und digitalen Angeboten. Allerdings mit der Notwendigkeit, die digitalen Angebote relativ schnell so weit entwickeln zu können, dass sie sich von der sklavischen Folie des Schulbuches entfernen können.

„Aktuell sehe ich die Idealform in einer hybriden Variante zwischen gedrucktem Schulbuch und digitalen Angeboten.“

Wenn uns das gelingt und Hardware, Infrastruktur und Identity-Management es ermöglichen, dann sind wir in Österreich auf einem sehr guten Weg – mit den von der öffentlichen Hand als Familienleistungen finanzierten Schulbüchern und Bildungsmedien in einer hybriden Form.

 

Auch der Hölzel Verlag ist ein Mitglied der Allianz Bildungsmedien Österreich.

Hier finden Sie einen Text über die Forderungen der Allianz Bildungsmedien Österreich.

 

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