Schwerpunkt: Orientierung
Bildung, Oida! Wie man Geschichte und Politik auf TikTok schmuggelt
Der Digitalverlag hashtag.jetzt produziert Edutainment für TikTok, Instagram & Co. Geschäftsführer Stefan Apfl erklärt, wie sich die Formate „geschichte.oida“, „politik:oida“ und „gemmalehre“ von Schminktipps und Tanzchoreos abheben.
Florian Wörgötter - 24. Juni 2022
„Oida, wisst ihr, wann ihr in Österreich 14 Cent Strafe zahlt? Wenn ihr euren Amtstitel nicht hergeben wollt“. Mit diesem Satz beginnt ein knapp 250.000-fach gestreamtes Video des TikTok-Kanals „geschichte.oida“. In 47 Sekunden erzählt ein „History-Influencer“ vom Adelsaufhebungsgesetz aus dem Jahr 1919, das Menschen, die sich auch heute noch als Baronesse oder Freiherren betiteln, zu einer Strafe von 20.000 Kronen verdonnert – in Euro umgerechnet: 14 Cent.
Beinahe täglich berichtet „geschichte.oida“ in bunten, schnellgeschnittenen Kurzvideos „die besten Fun-, Weird- und Random-Facts zur österreichischen Geschichte“. Knapp 15.000 Follower/innen haben den Kanal abonniert, rund 3,5 Millionen mal wurden die Videos gestartet, noch ist kein Euro in die Bewerbung geflossen. Produziert wird der TikTok-Kanal – wie auch andere digitale Infotainment-Formate – vom 2021 gegründeten Digitalverlag hashtag.jetzt.
Geschäftsführer Stefan Apfl, einst Chefredakteur des Qualitätsmagazins DATUM, spricht von einem „journalistischen und verlegerischen Experiment“, Edutainment-Formate für die Zielgruppe der 12- bis 35-Jährigen zu entwickeln und auf digitalen Kanälen wie TikTok, Instagram und YouTube zu vermarkten. „Ihr Medienverhalten ist radikal neu und einem permanenten Wandel unterlegen. Ihre Kommunikation ist ebenso digital wie ihre Informationsbeschaffung“, so Apfl, der sich auf diesem Wachstumsmarkt durchaus auf Experimente einlassen möchte. „Wir bieten Fakten als Alternative zu alternativen Fakten. Und das tun wir dort, wo es noch keine journalistischen Angebot gibt.“
History-Influencer auf TikTok
Den zunehmend in Kritik geratenen Lifestyle-Influencer-Begriff möchte hashtag.jetzt neu aufsetzen: „Wir scouten journalistische Influencer/innen, die ihre Reichweite und die Aufmerksamkeit ihres Publikums nutzen, um Inhalte zu transportieren, anstatt Produkte in die Kamera zu halten.“
Das Format „geschichte.oida“ hat Apfl mit den vier Studenten Nikolai, Jonas, Lukas und Nico im Journalismus-Unterricht an der FH Johanneum entwickelt. Diese vier Jungjournalisten erzählen abwechselnd selbstironisch und pointiert ihre Geschichten aus der Geschichte. Zum pädagogischen Konzept: „Wir haben uns angesehen, was in der Sekundarstufe I und II unterrichtet wird, was wir interessant finden und was noch unerzählt ist. Daher vermittelt geschichte.oida einen Mix aus Unterrichtsthemen, die man eigentlich eh kennen sollte, und Figuren sowie historischen Zusammenhängen, die wir als unterthematisiert betrachten.“
Im Kern der eigenen redaktionellen Arbeit steht der Anspruch an Faktentreue – von der Themenentwicklung, der Recherche bis zur Performance muss alles inhaltlich korrekt sein. Wie sie die Faktizität sichern? Die Studierenden bringen den publizistischen Zugang und das journalistische Handwerkszeug mit; der Verlag begleitet sie in der Produktion – von der Themenwahl über das Scripting bis zum Fact-Checking im Redigatur-Prozess, meint Apfl.
@geschichte.oida #neutralität #staatsvertrag #1955 #österreich #ukraine #lernenmittiktok #fyp #oida #geschichte ♬ Originalton – geschichte.oida
Historiker/innen haben sie keine an Board, doch sie vertrauen auf die Qualitätskontrolle einer aktiven Community. „Unser Publikum ist hochgradig an Geschichte interessiert und hinterlässt pro Beitrag zwischen 50 und 200 Kommentare. Wenn unsere Creator einen Fehler machen, erfahren sie es innerhalb von zehn Minuten. Und sie gehen transparent mit Fehlern um.“
Hat geschichte.oida auch das Zeug für den Geschichte-Unterricht an Schulen? „Wenn Lehrende den 30-jährigen Krieg durchgehen wollen, dann werden fünf Tik-Toks nicht reichen. Die Videos können als Schuhlöffel dienen, um den Fuß der Schüler/innen in den Schuh hineinzubekommen. Dafür ist das Format hochgradig tauglich“, meint Apfl. Eine diskursive, tiefgreifende Auseinandersetzung müsse aber weit über TikTok hinausgehen.
Politdokus mit Netflix-Anspruch
Ein weiteres Format aus dem Hause hashtag.jetzt ist das frei verfügbare Doku-Format „politik:oida“. Die 40- bis 60-minütigen YouTube-Dokumentationen von Regisseur Moritz Wehr wollen aktuelle politische Entwicklungen einordnen: Was ist Politik? Wer macht sie? Und was macht sie mit uns? Den ersten Film Der türkise Weg, eine Analyse der Politik der Kurz-ÖVP, hat hashtag.jetzt noch auf eigene Rechnung produziert. Im Nachfolgewerk Neun Minuten über den Wiener Terroranschlag hat man mit der DerStandard-Redaktion kooperiert. Der anstehende dritte Teil wird die Politik der Partei MFG beleuchten und am 5. Juli erscheinen.
„Wir haben den Anspruch, auf Netflix-Niveau für eine junge Zielgruppe zu produzieren, was Schnittgeschwindigkeit, Kameraeinstellungen und Erzählung betrifft“, erklärt Apfl. Wie man mit politischer Bildung auf YouTube, TikTok und Instagram auch Geld verdient? Diese Kernfrage sei eine „harte Nuss“, die Apfl ehrlich beantwortet: „Ich weiß es noch nicht. Wir sehen noch niemanden, der bereit ist, in Politikberichterstattung für junge Menschen zu investieren, sei es in Form von Werbung oder Kooperationen“.
Geschichte.oida wird bald das erste Geld mit Kooperatioen mit einem Wiener Museum und einer bundesweiten Kulturinitiative verdienen. Der Verlag finanziert seine anderen idealistischen Projekte, für die es keinen Markt, aber eine Nachfrage gebe, über weitere Digitalprojekte – für andere Medien, öffentliche Institutionen oder Unternehmen.
Influencer-Karriere mit Lehre
Eine dieser Kooperationen läuft mit dem WAFF, dem Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds. Im preisgekrönten TikTok-Format „gemmalehre“ ergründen die zwei „Showrunner/innen“ Aylin und Erik aka Satansbratan die Chancen des Lehrberufs in Wien – in Interviews und Liveshows, Betriebsbesuchen oder Selbsttests. Zwischendurch bewerben sie auch die Dienstleistungen des WAFF und des AMS. Seit Sommer 2021 hat das Format laut Verlag über 40 Millionen Impressions erzielt.
@gemmalehre Wie bewirbt man sich richtig? Hier die DO’S & DON’TS ?#gemmalehre #lehre #bewerbung #wien @satans_bratan_ ♬ Originalton – gemmalehre
Ob die beiden Influencer/innen vom WAFF nicht auch als Marketing-Tool gebucht werden, um an deren Community anzudocken? Kostet das dem Format seine Glaubwürdigkeit? „Bei #gemmalehre setzen wir auf die ,Street Credibility’ der Showrunner/innen. Beide haben eine Lehre abgeschlossen und kennen die Themen, die junge Leute während oder nach der Lehre beschäftigen“, sagt Apfl. Andererseits ginge es im Format nicht um reinen Imagetransfer und ein Schönreden etwa des AMS. „Wir wollen die konkreten Dienstleistungen des AMS für junge Leute vorstellen und uns mit ihren Problemen auseinandersetzen“. So stelle sich das AMS auch in einem TikTok-Livestream vor 10.000 User/innen deren schlechten Erfahrungen.
Apfl betont aber, sein Verlag betreibe kein Influencer-Marketing, in das man einzahlen kann, sondern kreiert Formate, in denen Influencer/innen mit journalistischem Anspruch recherchieren, produzieren und performen. Eine Kooperation werde zu 100 Prozent transparent gemacht. Diese Transparenz sieht er als als Wettbewerbsvorteil gegenüber gängiger Schleichwerbung und Product Placement bei Lifestyle-Influencer/innen.
Von Wurmloch zu Wurmloch
Wie politische Bildung gestaltet sein muss, dass sie zwischen Schminktipps, Tanzchoreografien und Playback-Singen hervorsticht? „Digitale Formate sollen der Lebenswelt der jungen Menschen entsprechen. Sie müssen nicht seicht und oberflächlich sein. Solange sie unterhaltsam und verstehbar produziert sind, können sie auch komplex und anspruchsvoll sein. Doch sie sollten nicht im Karo-Sakko daherkommen und belehren wie so oft im Schulunterricht. Sonst wird man in Sekundenschnelle weggeschaltet.“
Apfl selbst versteht TikTok als riesengroßen Komplex an Wurmlöchern. „Eine Information, eine Meinung, ein Impuls kann ein Wurmloch öffnen, über das man tiefer in ein Thema eindringen kann.“ Auch seine Studentinnen und Studenten haben ihm einige dieser Wurmlöcher eröffnet: Während Mentorenverhältnisse im Journalismus von einst oftmals eine Einbahn für den/die Mentor/in gewesen wären, lerne man heute extrem viel von den „Superkräften der 19-Jährigen über digitale Kanäle und junge Zielgruppen, von denen du als 30-Jähriger ja schon keine Ahnung mehr hast.“
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