Schwerpunkt: Orientierung

Andreas Salcher: „Wer vorschnell urteilt, erkennt oft Neues nicht“

Der Bildungsautor Andreas Salcher veröffentlicht das Buch „Unsere neue beste Freundin, die Zukunft“. Im Interview erklärt er, wie ihn hochbegabte Schüler/innen inspiriert haben und was Erwachsene von ihnen über Karriere lernen.

Florian Wörgötter - 19. Oktober 2023

Hoelzel Journal | Andreas Salcher | © Lukas Beck

Andreas Salcher hat die Sir Karl Popper Schule für besonders begabte Kinder mitgegründet, schreibt kritische Bücher über Schulbildung und arbeitet als Unternehmensberater. In seinem soeben erschienenen Buch „Unsere neue beste Freundin, die Zukunft“ findet er 21 Thesen, die Erwachsenen helfen sollen, die Zukunft aus den Augen von hochbegabten Jungen besser zu verstehen.

Hölzel Journal: Für Ihr neues Buch „Unsere neue beste Freundin, die Zukunft“ haben Sie besonders begabte Schüler/innen der Sir Karl Popper Schule und des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra in Meißen interviewt. Warum wählen Sie als Basis ausgerechnet Hochbegabte?

Andreas Salcher: Ich beschäftige mich seit Jahren mit der Frage: Was sollen junge Menschen lernen, um fit für die Zukunft zu sein? Die Grundidee dieses Buches war, das umzudrehen: Beschäftigt man sich mit Zukunft, kann man davon ausgehen, dass bestimmte Haltungen, Denkweisen und Fähigkeiten in jungen Menschen bereits veranlagt sind, teilweise ohne dass sie diese überhaupt bemerken. Wenn mich interessiert, was in den Jungen bereits die Zukunft abbildet, dann ist es natürlich sinnvoll, mit jenen Jungen darüber zu reden, die am weitesten sind.

Was definieren Sie als „besonders begabt“?

Menschen mit kognitiver Hochbegabung erkennen bestimmte Muster schneller als andere. Das können mathematische oder sprachliche Muster sein, sie können schneller Fremdsprachen lernen oder Programme erfassen. Nur haben die Jungen einen sehr idealistischen Blick auf die Welt, weil ihnen die Lebenserfahrung fehlt. Meine Aufgabe war es, diesen unverfälschten Blick auf die Welt und ihre Zukunft abzugleichen mit meiner Lebenserfahrung und der jener großartigen Menschen, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte. Die Gespräche mit den Jungen haben primär meiner Inspiration gedient, um 21 Thesen zur Zukunft zu finden, die sich aber an Erwachsene richten.

Welche Berufe wählen denn Hochbegabte? Sind sie die neuen Kreativen des Start-up-Szene? Oder schlagen sie auch traditionelle Karrieren ein?

Nach 25 Jahren können wir in der Sir Karl Popper Schule gut analysieren, welchen Weg unsere Schüler/innen gehen. Man möchte vielleicht glauben, dass alle Naturwissenschaften studieren, doch das geht quer durch den Fächerkanon. Natürlich studieren viele Medizin oder Unternehmensberatung, manche werden Schauspieler/innen, Start-up-Unternehmer/innen oder unterrichten ganz jung an der ETH Zürich. Sehr viele sind sozial engagiert, manche engagieren sich politisch.

„Wir sollen keine Häuser mehr mit Grundmauern bauen, sondern lernen, in Zelten zu leben.“

Was auch mit den Schülerinnen und Schülern in Deutschland übereinstimmt: Als Studierende wechseln Hochbegabte sehr häufig zwischen den Studienrichtungen. Eine typische Karriere: Zuerst Theaterwissenschaft, dann Naturwissenschaft, dann gründen sie ein Start-up und helfen in einem Entwicklungsland. Deswegen steht in meinem Buch auch, wir sollen keine Häuser mehr mit Grundmauern bauen, sondern lernen, in Zelten zu leben. Damit meine ich die Flexibilität, sich nicht mehr auf eine Karriere festzulegen, sondern sein Zelt immer dort zu errichten, wo man die besten Chancen findet.

Stichwort „Nur mal kurz die Welt retten“: Empfinden Hochbegabte eine höhere Verantwortung gegenüber der Welt? Legen sie die politischen und wirtschaftlichen Geschicke in ihre Hände?

Absolut. Sie gehen sehr demütig mit ihrer Hochbegabung um. Sie verstehen, dass ihre Intelligenz biologisch gesehen ein Glücksfall ist, woraus große Verantwortung entsteht. Das spürt man in ihrem frühen sozialen Engagement, etwa wenn sie im Rettungsdienst, in der Flüchtlingsbetreuung arbeiten oder kostenlose Nachhilfe in Behinderteninstitutionen geben.

Wissen Sie, wie hoch der Anteil an Hochbegabten ist, der nicht aus Haushalten mit akademischen Abschlüssen kommt?

Natürlich kommen die Schüler/innen überwiegend aus einer Bildungsschicht. Doch es passiert durchaus, dass Lehrer/innen in der Mittelschule Kinder mit besonderem intellektuellen Potenzial zu uns schicken. Unser Aufnahmeverfahren ist kein klassischer Intelligenztest, sondern wir testen vom Schulwissen unabhängig, wer welche Potenziale erfüllt. Das heißt, auch wer kein Schulwissen hat, kann mit dem Test als hochbegabt identifiziert werden. Was uns aber sehr freut, ist, dass wir – im Gegensatz zu den Anfangsjahren – zu jeweils 50 Prozent Buben und Mädchen haben.

Was können sich Erwachsene von kognitiv hochbegabten Jugendlichen für ihre berufliche Zukunft abschauen?

Alle jungen Befragten in Österreich und in Deutschland waren sich einig: Die Erwachsenen hören ihnen nicht wirklich zu. Sie würden ihre Ideen aufgrund ihrer Lebenserfahrung vorschnell beurteilen und verurteilen, indem sie alle Konsequenzen, vor allem die negativen, durchdenken. Je kompetenter Erwachsene sich fühlen, umso größer ist die Gefahr, dass sie schnell urteilen. Daher wäre es wichtig für Erwachsene, vor allem, wenn sie mit der neuen Generation zu tun haben: Wer vorschnell urteilt, erkennt oft Neues nicht. Also: Hören Sie nicht auf den ersten Reflex, sondern lassen Sie sich auf das Neue ein.

„Hören Sie nicht auf den ersten Reflex, sondern lassen Sie sich auf das Neue ein.“

Eine wichtige Haltung, um sich in einer zunehmend technologisch bestimmten Zukunft seinen Platz zu finden. Wann hören Sie auf die Jugend?

Ich habe mit zwei Schülern ein dynamisches Dreieck gebildet. Ich unterstütze sie als Mentor und sie zeigen mir neue Technologien, in denen sie Lichtjahre voraus sind. Ich höre ihnen demütig zu und lasse mir alles erklären. Die Jungen wünschen sich einen echten Dialog auf Augenhöhe mit ihnen. Das zeichnet auch gute Schulen und Unternehmen aus – sie treten in Dialog mit ihren jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Welche Fähigkeiten sollte Schule in der Berufsbildung gezielt fördern, wenn vorgezeichnete Erwerbskarrieren an Relevanz verlieren?

Die 21st Century Skills sind klar erforscht und lauten: Kommunikation, Kooperation, Kreativität und kritisches Denken. Wenn ich mit Leuten zusammenarbeite, die das kompensieren, worin ich selber nicht gut bin, dann bin ich besser unterwegs, auch beruflich. Denn keiner von uns ist so gut wie alle zusammen.

Besonders wichtig sind auch soziale Kompetenz und Resilienzfähigkeit. In meinen Tiefeninterviews ist mir klar geworden, wie viele Schüler/innen heute unter Mobbing leiden und wie bedeutend mentale Gesundheit für junge Menschen ist. Sie fordern nicht umsonst einen kostenlosen Zugang zur Psychotherapie für alle.

Hoelzel Journal | Andreas Salcher | "Unsere Neue Beste Freundin, die Zukunft" | © Lukas Beck

Das Inhaltsverzeichnis von „Unsere neue beste Freundin, die Zukunft“ empfiehlt Andreas Salcher als Lehrplan für die Schule des Lebens.

Die Kernbotschaft Ihres Buches bündelt sich im „Vertrauen ins Leben“. Wer dieses Grundvertrauen hat, kann sich selbstbewusst immer wieder neuen Aufgaben stellen, um seine Talente zu entdecken. Wenn man dieses Grundvertrauen nicht entwickeln konnte, wie gewinnt man Vertrauen ins Leben?

Nach meinen 21 Thesen habe ich mich gefragt, welches Muster alle Schüler/innen verbindet. Ich bin draufgekommen, dass alle Schüler/innen die Zukunft der Welt sehr kritisch sehen, aber extrem zuversichtlich auf ihr eigenes Leben blicken. Ein entscheidender Faktor dafür ist das Vertrauen ins Leben. Dieses Grundvertrauen entwickelt sich innerhalb der ersten sechs Lebensjahre. Jedoch nicht alle Menschen werden damit ausgestattet, auch nicht alle meine Interviewpartner/innen. Doch es gibt eine Brücke zum Vertrauen, die von beiden Seiten begehbar ist.

„Wer mit hohem Grundvertrauen startet, kann leichter neue Fähigkeiten erwerben. Wer dieses Glück nicht hat, kann über das Ausüben der eigenen Fähigkeiten das Vertrauen in sich selbst gewinnen und somit auch Vertrauen ins Leben.“

Wichtig ist, dass man seine eigenen Fähigkeiten auch kennt, dann bestärkt man sich wechselseitig. Und genau das macht laut den befragten Schülern und Schülerinnen sowohl die Sir Karl Popper Schule als auch das Sächsische Landesgymnasium Sankt Afra herausragend: Sie unterstützen unabhängig von der Pädagogik dabei, herauszufinden, worin man wirklich gut ist. Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig Menschen wissen, was sie wirklich gut können – was etwas anderes ist, als etwas gerne zu tun.

Ein Buchkapitel widmen Sie auch dem Lernen: Wie lernt man, richtig zu lernen?

Das Naturgesetz des Lernens ist: Lernen findet über Beziehung statt oder es findet nicht statt. Das hört sich zwar selbstverständlich an, aber in der schulischen Realität ist das oft nicht der Fall. Lehrer/innen werden noch immer viel zu sehr in Richtung Fachwissen und Fachdidaktik ausgebildet. Alle großen Studien sagen, das Entscheidende für den Lernerfolg der Klasse ist die wertschätzende Beziehung zwischen Schüler/innen und Lehrer/in. Erst wenn diese Beziehung aufgebaut ist, funktioniert das Lernen.

Was die neue Generation aber dramatisch verändert: die Fähigkeit, sich Wissen selbst anzueignen. YouTube ist die größte Lernplattform der Welt und wird von den Jungen intensivst genutzt. Sie lernen Mathematik damit, bringen sich das Klavierspielen oder Programmieren bei. Das ist eine riesige Herausforderung für das gesamte Schulsystem, auch für die Produktion von Unterrichtsmaterialien. Diese How-To-Videos sind extrem gut gemacht und zu jedem Thema finden sich Gruppen im Internet, die einander unterstützen.

„Unser Schulsystem und auch die Berufswelt unterschätzen die heutigen Möglichkeiten, sich Dinge selbst beizubringen.“

Notwendig dafür sind eine Grundmotivation und die drei natürlichen Prinzipien des Lernens, die in Zukunft noch bedeutender sein werden: Trial and Error, also ausprobieren und Fehler machen; gemeinsam voneinander lernen; und Sinn – denn nur, wenn ich verstehe, warum ich etwas lernen soll, bin ich bereit, diese Anstrengung auf mich zu nehmen.

Welche drei Dinge würden sie Ihrem Kind auf dem Weg in eine technologisch bestimmte Zukunft mitgeben?

Ich habe diese Frage einmal dem Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi gestellt. Der Erfinder des Flow-Konzepts hat darauf geantwortet: Das Beherrschen der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens, Rechnens und Allgemeinwissens werden immer wichtig bleiben. Doch was Kinder ebenso brauchen: Erstens müssen sie lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen – im Umgang mit den Eltern, ihren Lehrenden und Klassenkameraden.

Zweitens benötigen sie soziale Fähigkeiten: Sie sollten ihre Gefühle regulieren lernen, um nicht sofort auszurasten. Sie sollen Mitgefühl für andere entwickeln, um die Situation des anderen verstehen zu können. Und sie sollen Resilienz aufbauen, um Niederlagen und Enttäuschungen verarbeiten zu können.

Drittens: Junge Menschen müssen wissen, dass wir nicht alleine auf der Welt sind. Bei bald 9 Milliarden Menschen können wir nur gemeinsam überleben. Zusammengefasst: Sie übernehmen Verantwortung für sich, ihr soziales Umfeld und letztendlich für die Welt.

 

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