Schwerpunkt: Medienkompetenz

EsRAP: „Ich habe Politik beim Hören von Deutschrap gelernt“

EsRAP-Frontfrau Esra Özmen macht politischen Hip-Hop und gibt Rap-Workshops für Jugendliche. Im Interview erklärt sie, was junge Menschen beim Song-Schreiben über sich lernen können und wie sie ihre Maturaprüfung gerappt hat.

Florian Wörgötter - 24. Juni 2021

MEHR Bildungsmagazin Was jetzt | Esra Özmen EsRAP © Daniel Shaked

Hat Ihnen jemals ein Prüfling einen Rap zur Matura vorgetragen? Powerfrau Esra Özmen vom Hip-Hop-Duo EsRAP hat sich mit Reimen von ihrer Sprachscheu befreit. Was junge Menschen in ihren Rap-Workshops lernen und was ihr Rap über das Leben als Migrantin dritter Generation beigebracht hat, lesen Sie hier im Interview.

Die Kids jammen noch ein bisschen auf dem Klavier und der Gitarre. Sie stimmen sich auf den Rap-Workshop ein, der heute im Jugendzentrum VZA in Wien-Meidling stattfinden wird. Die Leiterin, Esra Özmen, ist die Wort- und Stimmgewalt des Wiener Hip-Hip-Duos EsRAP.

Kurz vor dem Workshop spricht die Musikerin, Künstlerin und Jugendarbeiterin vor dem Bühnenraum über ihre Arbeit – wie sie selbst mit 18 Jahren ihren ersten Rapsong im Jugendzentrum schrieb, warum sie aus Rap-Texten erfahren hat, dass sie als Migrantin nicht alleine ist, und wieso sich der Matura-Lernstoff besser einprägt, wenn man einen Song daraus macht.

Was jetzt: Esra, in deinen Rap-Workshops sprichst du über die Vielfalt von Kultur, Sprache und Gender. Wie vermittelst du politische Themen im Kontext der Musik?

Esra Özmen: Ehrlich gesagt: So wie ich selbst Politik gelernt habe. Ich habe Politik nicht aus Büchern oder Vorträgen gelernt, sondern beim Hören von Deutschrap. Die Texte haben mir gezeigt, dass schon mein Aufwachsen in einer Gastarbeiterwohnung politisch ist. Ich dachte immer, wir leben in einer Einzimmerwohnung mit Küche, weil wir arm sind.

Erst als ich in den Texten von Deutschrap mitbekommen habe, dass auch andere Migranten und Migrantinnen von diesem Leben reden, ihre Häuser gleich aussehen wie meines und ihre Kultur ähnlich ist, wusste ich, dass ich nicht die Einzige bin.

„Ich habe Politik nicht aus Büchern oder Vorträgen gelernt, sondern beim Hören von Deutschrap.“

Macht bedeutet auch, sich selbst und seine Geschichte zu kennen. Wenn eine Frau nicht weiß, was Frauen im Laufe der Geschichte widerfahren ist, hat es keinen Sinn zu sagen, sie sei Feministin.

Wie ausgeprägt ist das politische Bewusstsein deiner Teilnehmer/innen im Jugendzentrum?

Ich merke, dass Jugendliche sich selbst heute viel besser kennen, als wir uns damals kannten. Sie sind auch viel politischer, als wir es waren. Die Kids bekommen über Instagram und TikTok alles über Gender und LGBT mit oder wenn es – wie aktuell – um sexuelle Gewalt innerhalb der Rap-Szene geht. Dass sie in offenen Räumen im Internet und in Jugendzentren diskutieren können, macht sie politisch genug.

Wie reflektierst du negative Themen, die in gewissen Spielarten von Hip-Hop manchmal mitschwingen?

Ich habe noch in keinem Workshop jemanden sagen hören: „Sexuelle Gewalt finde ich nice.“ Ich muss sagen, dass in meinen Workshops, in denen ich solche Themen eröffne, sehr kluge, coole Sachen rauskommen. Ich muss nur die richtige Frage in den Raum stellen.

Was gibst du den Kids vor, um einen Song zu beginnen?

In meinem Workshop „Rapchor“ in der Brunnenpassage schlage ich jeden Montagabend ein Thema vor. Zum Beispiel: Existenz oder Instagram, Angstzustände oder Gender. Nach einer Stunde Gespräch versuchen alle, einen Text über einen Beat zu schreiben.

Was lernen Jugendliche über sich selbst, wenn sie eigene Songs schreiben?

Erstens lernen sie, wie wichtig und schön Texte sind. Sie lernen, wie man sie schreibt und welche Rolle die Historie von Rap dabei spielt. Das Wichtigste aber ist der Austausch über die Texte: Worüber schreiben wir? Wie schreiben wir? Wieso schreiben wir?

„Es ist großartig, wenn Jugendliche erstmals in ihrem Leben über Dinge schreiben, die sie noch nie jemandem anvertraut haben; wenn Kids unter Tränen sich einander öffnen und gegenseitig unterstützen.“

Ich hatte großartige Erlebnisse, wenn Jugendliche erstmals in ihrem Leben über Dinge geschrieben haben, die sie noch nie jemandem anvertraut haben; wenn Kids unter Tränen sich einander öffnen und gegenseitig unterstützen. Auch Mädchen sprechen bei Rap-Workshops ehrlich über Frauenthemen.

Inwiefern hat dir das Schreiben geholfen, dir deiner soziopolitischen Realität bewusst zu werden und dich als Teil des politischen Systems zu begreifen?

Auch ich habe meinen ersten Rapsong im Rahmen eines Projekts im Jugendzentrum geschrieben. Mein erster Text, den ich mit 18 Jahren verfasst habe, hieß „Ausländer mit Vergnügen“. Alle haben gesagt: „Esra, das ist so politisch!“ Ich habe gesagt: „Was ist daran politisch? Ich erzähle nur, wie ich lebe.“

Als ich später als einzige Frau auf der Bühne neben Männern gestanden bin, wurde mir klar – ob ich’s will oder nicht: Das ist politisch. Und zwar deswegen, weil Frauen davor kaum die Möglichkeit dazu hatten, und dass ich jetzt hier stehe, das ist politisch.

Wie wichtig war die Musik für dich und EsRAP, um deine Erfahrungen als Gastarbeiterkind der dritten Generation zu verarbeiten?

Rap ist seitdem meine Therapie. Ich wurde als Kind in meiner kleinen Welt hin- und hergerissen. Ich bin in einer türkischen Familie aufgewachsen und habe die deutsche Sprache sehr spät gelernt. In der Hauptschule war ich mit 24 Türkinnen und Türken in der Klasse. Danach war ich die einzige Migrantin im Gymnasium und ging weiter in die Akademie der Bildenden Künste.

Als junger Mensch bringt das deine Gefühle durcheinander, du kannst die innerliche Unruhe aber nicht definieren. Eine Plattform wie Rap kann die Bandbreite an Wut, Liebe und Leidenschaft kanalisieren. Ich glaube, Rap ist die richtige – und auch einzige – Plattform, auf der es cool ist, über das Ausländersein zu reden – und das wissen die Jugendlichen.

Was empfiehlst du Lehrenden: Wie können sie mit aktueller Musik die Jugend im Unterricht erreichen?

Als ich damals im Fach Englisch maturiert habe, war mein Englisch so schlecht, dass ich beim Vortragen gezittert habe. Daher habe ich meine Lehrerin gefragt, ob ich stattdessen einen Song über mein Thema „HipHop“ schreiben könne. Sie sagte ja, aber nur in englischer Sprache. Das hat mich motiviert, denn Rap war meine Stärke. Also habe ich mein Matura-Thema in Englisch gerappt. Wahrscheinlich habe ich deshalb mit einem Zweier in Englisch maturiert, weil mir die Schule diesen Raum gegeben hat.

„Rap hat mir geholfen, den Matura-Stoff einzuprägen. Ich habe die Themen zusammengefasst und einzelne Raptexte geschrieben, die ich über den Kopfhörer auswendig gelernt habe.“

Außerdem hat mir Rap auch geholfen, den gesamten Matura-Stoff einzuprägen. Ich habe die Themen zusammengefasst und daraus einzelne Raptexte geschrieben, die ich über den Kopfhörer auswendig gelernt habe. So habe ich damals in Biologie einen Rap über Mutationen geschrieben.

Eine interessante Lernmethode. Wie könnte Musik noch im Unterricht eingesetzt werden?

Vor allem im Deutschunterricht könnte man Raptexte gut als Anschauungsmaterial verwenden, um das Schreiben verstehen zu lernen oder Reimformen und Metaphern zu analysieren. Die Kinder würde es jedenfalls anziehen.

Wie hat das Musikmachen deinen Blick auf die Welt verändert?

Ich habe durch meine Musik den ersten Applaus in meinem Leben bekommen. Erstmals wurde ich als Person gesehen, die endlich etwas richtig gut gemacht hat. Davor war alles, was ich machte, eher negativ. Gesehen zu werden ist ein wichtiges Gefühl, damit du weißt, du hast eine Wirkung, die ankommt.

Die andere Ebene ist, wie die Musik eines Beats auf mich wirkt. Als EsRAP verbinden mein Bruder Enes und ich das Widerständige von Rap mit dem Leiden der Arabesken. Ich stelle die Frage nach meinem persönlichen Leid und beantworte sie beim Schreiben in meinem Rap. Durch diese Therapie sehe ich die Welt klarer.

 

Wenn Sie an einem Rap-Workshop für Schulen oder Jugendzentren interessiert sind, können Sie Esra Özmen hier kontaktieren.

Die neue Single von EsRAP namens „OTK“ erscheint am 2. Juli auf allen Streamingdiensten.

Im aktuellen WissenPlus finden Sie Unterrichtsmaterial der DemokratieWEBstatt zum Thema „Politik und Musik“.

 

Mehr zum Thema Medienkompetenz:

Anna Weghuber vom EduFunk: „Die Welt der Kids besteht aus Ton und Bild“
Florian Scheuba: „Humor ist eine Naturgabe: Nicht jeder hat sie.“
Jugendwertestudie: 7 von 10 fühlen sich von Politik ignoriert
So geht MEDIEN: Das deutsche Lexikon der Medienkompetenz
Wie prügeln sich Politiker/innen? Das Magazin Katapult antwortet in Karten
Safer Internet Day: „Soziale Netzwerke werden erwachsen”
Südwind Steiermark: Globales Lernen von und mit Popkultur
Fritz Plasser über die Ära Trump: „Durch die Bank ein Regelverstoß“
WissenPlus: Zeitungsartikel von MISCHA über Kapitol, Trump und Biden
Lehrmaterial Medienethik: Schlüpfen Sie in die Rolle des Presserates
Internet Ombudsstelle: 10 Tipps für sicheres Online-Shopping
Was Lehrkräfte von HipHop über die Gesellschaft lernen
News-Avoider/innen: Die Hälfte der Jugend meidet Politik in den Nachrichten
Peter Filzmaier: Einen Wahlkampf im Unterricht analysieren
Leo Hemetsberger: „Im Internet gibt es keine Privatsphäre“
Fobizz: Online-Medienbildung für Lehrkräfte
Rat auf Draht: Sexualität in digitalen Medien
Fachstelle Enter: Wie Lehrende Computerspiele verstehen lernen
Wo Gamer/innen ihr Hobby studieren können
Was lernt man eigentlich in der Medien HAK Graz?
Safer Internet: Barbara Buchegger über Online-Sexismus
Interview mit Mimikama-Faktenchecker Andre Wolf
Medienprojekte beim Media Literacy Award
WissenPlusVideo: #blacklivesmatter im Unterricht
Digital-Expertin Ingrid Brodnig über Verschwörungsmythen im Unterricht
WissenPlusVideo: Die Tricks der Fake News-Macher durchschauen

Diesen Artikel teilen: