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„Lernstoff Digitalisierung wird in Österreich völlig vernachlässigt“

Wie schneidet Österreichs Berufsausbildung im Vergleich mit anderen Ländern ab? Von wem können wir lernen? Bildungsexperte Stefan Hopmann über Defizite und Chancen in Teil 4 unseres International-Schwerpunkts.

Das Gespräch führte Manuela Tomic - 3. Oktober 2018

 

Herr Hopmann, wie steht das österreichische berufsbildende System im internationalen Vergleich dar?

Duale Ausbildungssysteme, aber auch berufsbildende Vollzeitschulen wie zum Beispiel die HTL haben sich bewährt und gelten international als Vorbild. In vielen Ländern werden unsere berufsbildenden Modelle kopiert, jedoch ist die Übernahme des Modells nicht so ganz einfach.

Es gehören schließlich auch die Berufsausbildungsordnungen, Anerkennungssysteme, die Kammern und vieles mehr dazu. Das System ist bei uns historisch gewachsen, daher kann man es nicht einfach über andere Länder stülpen. International gibt es aber auch Mischformen.


Wo zum Beispiel?

Die Skandinavier etwa haben kein duales System, wie wir es kennen. Die Ausbildung zeichnet sich durch einen deutlich geringeren Anteil berufspraktischer Komponenten aus. In Österreich, Deutschland oder der Schweiz hingegen ist dieser Anteil sehr hoch.

 

„Im Ausland werde ich häufig gefragt, wie wir es schaffen, so viele Jugendliche im Beruf unterzubringen.“

 

Eines ist dennoch klar: Im Ausland werde ich häufig gefragt, wie wir es schaffen, so viele Jugendliche im Beruf unterzubringen. Wenn wir also in Österreich über unser berufsbildendes System jammern, dann ist es in jedem Fall ein Jammern auf hohem Niveau, da die Übergänge von Schule zu Beruf bei uns im internationalen Vergleich sehr gut gestaltet sind.


Gibt es dennoch Best-Practice-Beispiele für Österreich?

Nachholbedarf gibt es auf alle Fälle in der Bezahlung. In der Schweiz etwa ist die Entlohnung in Lehrberufen in Relation zu den Lebenskosten deutlich höher als in Österreich.

Hierzulande gibt es hingegen Berufe wie zum Beispiel Koch, die aufgrund der Bezahlung nicht mehr attraktiv genug sind. Junge Menschen können rechnen. Hier gibt es einen Nahholbedarf, nicht zuletzt bei Lehrberufen, in denen viele junge Frauen arbeiten, wie zum Beispiel Friseurin.

In diesen Sparten ist es sogar als fertig Ausgebildete mit einem Vollzeitgehalt schwer, eine Familie zu ernähren. Da entscheiden sich viele lieber gleich fürs Studium, um später bessere Chancen zu haben.

 

„Wer im Norden aus dem System rausfällt, hat echte Schwierigkeiten, wieder reinzukommen.“

 

Länder wie Schweden, Finnland oder Dänemark werden immer wieder als Vorreiter in Sachen Berufsbildung genannt. Was machen diese Länder besser?

Finnland mag bei PISA recht gut abschneiden. Das hat aber viel mit dem Testformat zu tun. Solche Tests sind ungeeignet, um verschiedene Schultypen zu vergleichen. Es handelt sich hier lediglich um eine punktuelle Prüfung von 15-Jährigen.

Die viel wichtigere Frage ist jedoch, wer am Ende der Pflichtschule und der Ausbildungsphase den Schritt in den Beruf schafft. Und hier steht Österreich im internationalen Vergleich sehr gut dar. Ein einzelner Messpunkt sagt wenig über Verlaufsgeschichten und Langzeitfolgen, das wird oft bei der PISA-Debatte übersehen.


Also doch nicht alles schlecht in Österreich?

Der Vorteil, den wir im Gegensatz zu Ländern wie Finnland, Schweden oder Dänemark haben, ist unsere Flexibilität. In Österreich gibt es in der Berufsbildung ungeheuer viele Nebenstraßen.

In vielen anderen Ländern hingegen kann es sein, dass man mit zwölf oder 17 quasi den Zug verpasst hat, und dieser dann für immer abgefahren ist.

Wer im Norden aus dem System rausfällt, hat echte Schwierigkeiten wieder reinzukommen. Hierzulande sind hingegen viele weitere Anläufe und verschiedene Optionen möglich. In Österreich erwerben zum Beispiel jährlich etwa mehr als die Hälfte der Schüler ihre Hochschulzugangsberechtigung über die berufliche Bildung.

Das zeigt, wie effektiv der Gedanke war, möglichst viele Wege zu schaffen. Im Norden sehe ich diese Entwicklung nicht, obwohl sie bei PISA besser abschneiden.

 

„Bei Lehrlingen ist Erasmus insgesamt ein Randphänomen, weil der Ausbildungsverlauf viel gedrängter ist als ein Universitätsstudium.“

 

Das unter Studenten längst etablierte Austauschprogramm Erasmus läuft bei europäischen Lehrlingen noch nicht so gut an. Wie könnte man diesen Trend umkehren?

Tatsächlich hat der Bologna-Prozess auch unter Studierenden die Erasmus-Zahlen indirekt gesenkt. Bei Lehrlingen ist Erasmus insgesamt ein Randphänomen, weil der Ausbildungsverlauf viel gedrängter ist als ein Universitätsstudium.

Bei der Lehre können Auszubildende meist nicht einfach so ein Jahr dranhängen, weil sie in Grönland sein wollen. Ich befürworte den Austausch unter jungen Lehrlingen. Wenn diese sehen, wie Betriebe in anderen Ländern funktionieren, dann ist dies auch eine Bereicherung für die Arbeit zu Hause.


Wie könnte die Attraktivität gesteigert werden?

Es sollte den Lehrlingen erleichtert und nicht erschwert werden, ins Ausland zu gehen. Ich verstehe natürlich einen Klein- oder Mittelständler, der keine Lust hat, jedes Jahr zu spekulieren, ob er einen Lehrling im Betrieb hat oder nicht. Größere Betriebe werden sich da schon leichter tun.

Die Unternehmen sollten auch finanziell und ressourcentechnisch unterstützt werden, vor allem aber bei der Organisation. Nimmt ein österreichischer Betrieb ausländische Lehrlinge auf oder reisen österreichische Lehrlinge ins Ausland, ist das ein enormer Aufwand.

Ich glaube, wenn es hier mehr Unterstützung gibt und die Partner, also die Wirtschaftskammer und die Arbeiterkammer, intensiv zusammenarbeiten, kann man Erasmus für Lehrlinge definitiv um einiges attraktiver machen.


Wie müssten sich berufsbildende Schulen aufstellen, um wieder beliebter bei Schülern zu werden?

Neben der bereits erwähnten Flexibilität und der Vielfalt an Möglichkeiten ist es auch wichtig, einen erfolgreichen Abschluss zu garantieren. Es muss uns gelingen, die Motivation, die anfangs vorhanden ist, über die gesamte Schullaufbahn aufrechtzuerhalten.

Ich kenne HTL-Lehrer, die mit Stolz erzählen, dass über die Hälfte der Schüler nach dem ersten Jahr die Klasse verlassen. Ich finde diese Einstellung schlichtweg falsch.

 

„Es muss uns gelingen, die Motivation, die anfangs vorhanden ist, über die gesamte Schullaufbahn aufrechtzuerhalten.“

 

Es ist die Verantwortung der Schulen und der Betriebe, dafür zu sorgen, dass viele Schüler die an sie gestellten Anforderungen auch erfüllen können. Ansonsten haben wir sozial ungleich verteilte Probleme.

Wer aus schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen kommt, wird es schwerer haben, Lernschwierigkeiten zu überwinden. Wenn die Schule diese Extrameile geht, die notwendig ist, dann wird auch die Attraktivität berufsbildender Schulen steigen.


Stichwort Migration: Wie könnte man Zuwanderung nutzen, um geeignetes Personal zum Beispiel für Mangelberufe auszubilden?

Es gibt diese jungen Menschen, die eingewandert sind und erfolgreich eine Lehre absolvieren. Wir haben Zuwanderung in Österreich, wir wollen sie nur nicht. Dabei ist es wirtschaftlich viel attraktiver, wenn Österreich akzeptiert, dass es ein Einwanderungsland ist.

Wir müssen genügend Ressourcen aufstellen, damit diese Menschen in der Lage sind, ihren Weg erfolgreich zu gehen. Ebenso müssen wir Lehrbetriebe entsprechend unterstützen.

Ein Betrieb ist natürlich keine Hilfsorganisation. Trotzdem gehen einige Unternehmen den schwierigen Weg und bilden Lehrlinge aus, die auf Dauer vielleicht gar nicht im Land bleiben dürfen.

Es braucht mehr Deutschunterricht, schnellere Anerkennungen von Zeugnissen und die Förderung von Lehrbetrieben, die zugewanderte Menschen aufnehmen. Außerdem müssen wir ihnen die Sicherheit geben, dass sie zumindest für die Zeit ihrer Ausbildung im Land bleiben dürfen.


Alle reden von der Digitalisierung des Unterrichts, auch des Schulbuchs, warum läuft das in Deutschland oder Österreich nur so schleppend voran?

Wir unterscheiden hier zwei Dinge: Digitalisierung als Lerngegenstand und Digitalisierung als Lernform. In Österreich existiert nur das Zweite. Das bedeutet, dass Digitalisierung als solches durch Tablet-Klassen und Ähnliches Einzug in die Klassenzimmer finden soll.

 

„Schüler müssen lernen, mit der Parallelwelt im Netz umzugehen.“

 

Digitalisierung als Lerngegenstand wird hierzulande jedoch komplett vernachlässigt. Dabei sollte es diesen Gegenstand bereits von der Volksschule an geben.

Schüler müssen lernen, mit dieser Parallelwelt umzugehen, Informationen einzuordnen und die verschiedenen Strategien der Darstellung im Netz kennenlernen. Das ist genauso, wenn nicht noch wichtiger, als die modernsten Gerätschaften in einem Klassenzimmer zu haben.


Wie kann das Schulsystem, speziell das berufsbildende Schulsystem, schneller auf Veränderungen reagieren?

Ein wichtiger Schritt wäre es, von der Arbeitgeberseite und von der Politik bestimmte Anreize für gewisse Berufe zu schaffen. Denn die Schulen können nicht alles alleine verantworten.

Natürlich hängt die Wahl der Schule auch unmittelbar mit den Karrierechancen danach zusammen. Wenn zum Beispiel Pflegeberufe in der Regel schlecht bezahlt sind, können Schulen, die Pflegekräfte ausbilden, nicht viel unternehmen, um attraktiver zu werden.

 

„Berufsbildende Schulen müssen schneller auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt reagieren dürfen.“

 

Dasselbe gestaltet sich aber auch am anderen Ende des Spektrums, nämlich bei technischen Berufen. Wer sich hier gute Qualifikationen erarbeitet hat, sieht seine Möglichkeiten bald mal im Ausland, zum Beispiel in der Schweiz oder sogar in den USA. Berufsbildende Schulen müssen schneller auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt reagieren dürfen.


Gibt es dafür Beispiele?

Ein positives Beispiel sind österreichische Tourismusschulen. Ob Weinviertel, Innsbruck oder am Wörthersee: Hier wird je nach Region gemeinsam mit dem Schulen auf die Bedürfnisse der Schüler und der Tourismuslage geachtet.

Zudem werden die nächsten Trends analysiert und in die Ausbildung stark eingebracht. Auch Landwirtschaftsschulen richten ihre Frage auf das, was angehende Jungbauern morgen erwartet.

Daher würde ich den Schulen samt ihrer umliegenden Region mehr Freiheiten einräumen, um Modelle auszuprobieren oder umzustellen.

Wenn die Schulen verstärkt auf ihre Bedürfnisse eingehen können und sich schnell nach den künftigen Entwicklungen ausrichten dürfen, wird die Attraktivität des berufsbildenden Schulsystems auch in Zukunft im internationalen Vergleich garantiert sein.

 

Zur Person

Stefan Thomas Hopmann ist Professor für Schul- und Bildungsforschung am Institut für Bildungswissenschaften an der Universität Wien. 

Er beschäftigt sich mit empirisch und historisch vergleichender Schul- und Bildungsforschung, der Lehrerinnenbildung und der Didaktik. 

Seine Forschung und Lehre führten ihn unter anderem nach Dänemark, Deutschland, Finnland, Norwegen, Schweden, die Schweiz und in die USA.

 

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Ein Beitrag aus der Was jetzt-Redaktion.

 

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