Schwerpunkt

Estland: Die digitalen Champions

Estland will bis 2020 alle Schulbücher digitalisieren. Das passt zur Gesamtstrategie des Tech-Vorreiterlandes. Nicht nur Österreich blickt daher auf den innovativen Nachbarn im Baltikum.

Von Manuela Tomic - 12. September 2018

 

Mit seinen mehr als 1.000 Inseln, mittelalterlichen Burgen und dem eindrucksvollen Hügelland wirkt Estland wie das perfekte Urlaubsziel für Naturromantiker. Doch unser Nachbar im Baltikum kann viel mehr als das.

Längst hat sich das 1,3-Millionen-Einwohner Land EU-weit einen Namen als digitale Wundertüte gemacht. Ob Arztrezepte, Meldeämter oder sogar Parlaments- und Kommunalwahlen: die Esten erledigen alles digital.

Beliebtes Tourismusdomizil

Daher gehört Estland mit einem BIP von rund 19 Milliarden Euro nicht nur zu den beliebten Tourismusdomizilen in der EU, sondern beherbergt auch einige wichtige IT- und Elektronikunternehmen, wie zum Beispiel den schwedischen Multimediakonzern Ericsson.

Egal wohin man blickt: Estland ist mitten drin im digitalen Transformationsprozess. Und dieser macht auch vor dem schulischen Unterricht keinen Halt.

 

Das Alleinstellungsmerkmal

Was sich in estnischen Klassenzimmern abspielt, hätte sich selbst Marty McFly nicht erträumen lassen. Tatsächlich wirkt der Unterricht dort für unsereins wie eine Szene aus dem Science-Fiction-Hit „Zurück in die Zukunft“. Nur, dass es hier vorwärts geht.

Da werden Schüler mit Tablets gescannt, ihre Prüfungsantworten in Echtzeit ausgewertet, Robotik-Kurse besucht oder Smartboards, also interaktive Tafeln, hervorgeholt.

Digitaler Transformationsprozess

Schüler bekommen Aufgaben übers Smartphone geschickt und beantworten diese mithilfe von QR-Codes. Selbst das Klassenbuch ist digital und erleichtert Lehrern die bürokratische Arbeit enorm.

Bis 2020 sollen auch Schulbücher digitalisiert werden und damit in gedruckter Form der Vergangenheit angehören. Ohne Frage: Estland ist der digitale Vorreiter in Europa. Schon seit 1999 sind alle estnischen Schulen mit dem Internet verbunden. Heute sind auch die Schüler längst digital vernetzt. Wer kein Smartphone oder Tablet hat oder sich dieses nicht leisten kann, dem wird gratis ausgeholfen.

 

Estland gilt als digitaler Vorreiter – und das nicht nur in Sachen Schulbildung.


Das Schulsystem

In den letzten Jahren schneidet Estland im europäischen Pisa-Vergleich jährlich als Spitzenreiter ab und hat mit 535 Punkten sogar den bisher langjährigen Favoriten Finnland (534 Punkte) knapp überholt. Längst blicken daher Länder wie Österreich oder Deutschland auf Estland.

Jährlich geben die Esten laut OECD-Bericht nur etwa fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts für Bildung aus und schafften es damit an die Spitze.

Während die digitale Ausbildung in Estland boomt, orientiert sich das Land in Sachen berufsbildender Schulen lieber an anderen Ländern, wie zum Beispiel Deutschland.

Fachkräftemangel erschwert Personalsuche

Denn der Fachkräftemangel in Estland erschwert seit Jahren die Personalsuche. Immer mehr junge Balten besuchen die Universität oder ziehen ins Europäische Ausland um – das Hauptproblem für die Unternehmer.

Die Akademikerquote liegt mit etwa 38 Prozent immer noch deutlich über dem OECD-Durchschnitt von 35 Prozent. Um berufsbildende Schulen attraktiver zu machen, wurde das duale System immer wieder reformiert und an Länder wie Deutschland oder Österreich angepasst.

Berufsschule mit Lehre

Nach neun Pflichtschuljahren kann man sich in Estland neben der Sekundarstufe II, auch für das berufsbildende Schulsystem oder eine berufliche Ausbildung mit dem Besuch einer entsprechenden Berufsschule samt Lehre entscheiden.

Dabei verbringen die Schüler zwischen 35 und 70 Prozent ihres Unterrichts in Firmen, Labors oder in Schul-Workshops. Wer die zwölfte Klasse einer berufsbildenden Schule absolviert, kann abschließend eine Universität oder eine college-ähnliche Hochschule besuchen.

 

Der Experten-Check

„Die estnische duale Ausbildung hat sich im letzten Jahrzehnt noch stärker an die Anforderungen des Arbeitsmarktes angepasst“, sagt Dmitrijs Kuļšs, Experte am European Centre for the Development of Vocational Training, „einerseits haben sich kleinere Schulen zu großen Berufsbildungszentren zusammengeschlossen um ein breites Angebot zu garantieren, andererseits werden auch so genannte Self-Learning-Programme immer beliebter“.

Diese werden im Bereich der Erwachsenenbildung für Lernende ab dem 17. Lebensjahr angeboten. Etwa 5.100 Menschen nutzen die Programme jährlich in über 15 so genannten „Adult Secondary Schools“.

Anzahl der Lehrlinge steigt

Und die Reformen zeigen Wirkung: 2013 lag die Arbeitslosenquote der unter 25-Jährigen noch bei 20 Prozent und bis 2017 ist sie bereits auf 13,4 Prozent gesunken.

Auch die Anzahl der Lehrlinge, die zwar mit 5 Prozent aller Schüler in der dualen Ausbildung noch sehr niedrig ist, steige rasant an und habe sich in dem letzten Jahr verdoppelt, sagt Kuļšs.

Der Unterricht in den berufsbildenden Schulen wird zudem in anderen Sprachen, meist Russisch, angeboten, um sich an den Arbeitsmarkt wichtiger Nachbarn anzunähern.

Seit 2010 hat sich auch der Anteil an Erwachsenen in der dualen Ausbildung mehr als verdoppelt, denn die erklärte Bildungsstrategie lautet: „Lifelong learning“. Eine die davon profitiert, ist die 33-Jährige Marie Lee Liivak.

 

Das sagt Marie Lee Liivak

Liivak besucht die Polytechnische Schule in Tallin. Sie hat sich auf technische Druckverfahren spezialisiert. „Mit einem technischen Fach bin ich am Arbeitsmarkt auf der sicheren Seite und muss mir keine Sorgen machen“, sagt sie, „ich würde sehr gerne nach der Ausbildung verreisen und mich auch in anderen Ländern weiterbilden, um mehr über Druckverfahren zu lernen und eine Expertin auf diesem Gebiet zu werden“.

Vor ihrer Ausbildung an der Polytechnischen Schule hat Liivak Theaterwissenschaft studiert und als Dramaturgin gearbeitet. „Aber im kreativen Bereich ist es am Arbeitsmarkt sehr turbulent, und Druckverfahren haben mich immer interessiert, da ich Bücher liebe“, erzählt die Schülerin.

Lebenslanges Lernen

Manchmal wünsche sich Liivak mehr inhaltliche Tiefe im technischen Unterricht, aber sie ist froh über das Lifelong-Learning-Angebot in Estland. „Es ist wichtig, dass einem mehrere Optionen offen stehen“, sagt sie, „denn den einen geradlinigen Weg scheint es heute längst nicht mehr zu geben, egal welches Alter man hat“.

 

Mehr

Berufsbildung: Wie machen das die anderen?
Inside Manz: Besuch in der Klasse der Zukunft
European Centre for the Development of Vocational Training
Polytechnische Schule Tallin
OECD Estland

 

Ein Beitrag aus der Was jetzt-Onlineredaktion. 

 

Diesen Artikel teilen: