Schwerpunkt: Orientierung
Christiane Druml: „Lehrende sollen beim Impfen Wissenschaft vertreten“
Die Bioethikkommission berät das Bundeskanzleramt in medizinethischen Fragen. Die Vorsitzende Christiane Druml erklärt im Gespräch, warum eine Pandemie keine Privatsache ist und dass Lehrende sich klar zur Impfung bekennen sollen.
Florian Wörgötter - 10. Dezember 2021
Ist die Pandemie eine Privatsache? Dieser Frage hat sich die Bioethikkommission kürzlich in einer ihrer Stellungnahmen gewidmet. Das Beratungsgremium bestehend aus 25 (ehrenamtlichen) Expertinnen und Experten informiert das Bundeskanzleramt zu ethischen Kontroversen auf dem Gebiet der Humanmedizin und Humanbiologie. Ihre Empfehlungen haben aber keine bindende Wirkung für die Gesetzgebung.
Die Bioethikern Christiane Druml ist die Vorsitzende der Bioethikkommission im Bundeskanzleramt. Als Inhaberin des UNESCO Lehrstuhls für Bioethik an der Medizinischen Universität Wien unterrichtet sie auch das Thema „Impfung“ aus ethischer Sicht. Im Was jetzt-Gespräch erklärt Druml, welche ethischen Grundsätze eine generelle Impfpflicht rechtfertigen, welche Aufgaben die Schule bezüglich Corona haben sollte und wie sich Lehrende zur Impfpflicht positionieren sollten.
Was jetzt: Frau Druml, noch vor wenigen Wochen hat die Regierung eine Impfpflicht kategorisch ausgeschlossen. Wie erklären Sie jungen Menschen den plötzlichen Schwenk hin zu einer Impfpflicht für (fast) alle?
Christiane Druml: Eine Pandemie ist alles andere als der Normalzustand. Der Staat muss eine andere Gesundheitsperspektive verfolgen, weil er verpflichtet ist, so viele Menschen wie möglich gesund zu erhalten und alles für ihre Gesundheit zu tun. Ich verstehe nicht, dass die Politik ständig versprochen hat, dass eine Impfpflicht keinesfalls kommen wird. Denn wir wissen alle, dass wir die Pocken damals nur bewältigen konnten, weil es eine Impfpflicht gegeben hat. Sonst hätten wir diese grauenhafte Erkrankung noch immer.
Mit dem jetzigen Lockdown war einfach klar, dass wir mit dieser niedrigen Impfungsrate nicht aus der Pandemie herauskommen werden. Auf freiwilliger Basis ist diese Impfungsrate nicht mehr steigerbar. Eine Impfpflicht apodiktisch auszuschließen hat allerdings der FPÖ in die Hände gespielt.
Welche ethischen Grundsätze rechtfertigen diesen hochsensiblen Eingriff des Staates in die persönliche Selbstbestimmung?
Als Argumentation für die allgemeine Impfpflicht kann man eine einfache Formel anwenden, die die Verhältnismäßigkeit eines jeden Eingriffs in die Freiheitsrechte und jedes verfassungsmäßig gewährleistete Recht begründen kann:
„Je harmloser der Eingriff für die einzelne Person ist, je gefährlicher die Erkrankung für die Gesundheit der Bevölkerung ist und je größer der Nutzen einer Impfpflicht insgesamt für die Gesundheit der Bevölkerung ist, desto eher erscheint der Eingriff in die körperliche Integrität des Einzelnen gerechtfertigt.“
Eine Impfung ist im Verhältnis zu vielen anderen Eingriffen harmloser: Die Corona-Schutzimpfungen sind in der EU zugelassen, fast sieben Milliarden Dosen wurden verimpft. Man weiß genau, welche Impfreaktionen entstehen und welche Folgen das für Einzelne hat. Und die Erkrankung ist gefährlich: Viele ältere Menschen erkranken schwer, aber auch Junge und Kinder landen auf der Intensivstation. Schwangere sind sogar daran verstorben.
Man kann nicht mehr sagen, dass diese Erkrankung so harmlos ist, dass man sie sich einfach vor sich hin entwickeln lassen kann. Daher ist der Nutzen einer Impfpflicht – das sehen wir auch aus den Daten anderer Länder – für die Bevölkerung groß und der Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen durchaus argumentierbar.
Im Juli 2021 verkündete Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz noch, der Schutz vor Covid sei ab jetzt Privatsache. Die Bioethikkommission hat in einer Stellungnahme vom 27. Oktober erklärt, die Pandemie ist keine Privatsache. Warum?
Vergleichen wir die Impfung gegen Covid mit der Impfung gegen FSME, die sogenannte Zeckenimpfung: Wenn ich nicht gegen FSME geimpft bin, erleide ich womöglich einen Schaden, aber ich schädige meine Mitmenschen nicht. Wenn ich schwer erkrankt auf einer Intensivstation lande, bin ich wahrscheinlich ein Einzelfall, die Intensivstationen werden also nicht lahmgelegt.
In gewisser Weise hat jede/r das Recht zur Unvernunft. Es ist mein gutes Recht, selbst den Schaden einer Krankheit zu erleiden. Bei Corona ist es aber so, dass alle meine Entscheidungen auch eine Entscheidung für oder gegen andere Menschen sind, die ich mit dem Virus gefährden kann. Lasse ich mich als Lehrer/in nicht impfen, gefährde ich die Kinder im Unterricht und alle anderen Menschen in der Schule. Ungeimpfte Pflegekräfte gefährden alle anderen im Spital und sind nur bedingt einsetzbar. Die Auswirkungen auf andere sind viel massiver, daher ist Corona keine Privatsache, sondern eine Sache der Gesellschaft.
In Ihrer Stellungnahme war keine Rede von einer allgemeinen Impfpflicht. Sie haben aber eine Impfpflicht für Multiplikatoren wie Lehrende empfohlen. Waren Sie persönlich überrascht, dass die Regierung plötzlich eine generelle Impfpflicht beschlossen hat?
Nein, diese Ultima-Ratio-Entscheidung hat mich nicht überrascht. Ich habe schon im April 2020 in einem Interview gesagt, dass die Situation schwierig werden wird und, wenn es tatsächlich einen Impfstoff gibt, was damals noch nicht abzusehen war, wir ohne eine gemeinsame Haltung in der Bevölkerung nicht aus der Pandemie herausgehen werden.
Welche Aufgaben sollte Ihrer Meinung nach die Schule übernehmen, wenn es um das Thema „Impfpflicht“ geht?
Wie wir gesehen haben, hat die Schule eine sehr wichtige Bedeutung in unserer Gesellschaft. Einerseits haben die Kinder ein Recht auf Bildung, andererseits gibt es eine Unterrichtspflicht, daher muss auch trotz Pandemie und Lockdowns der Unterricht aufrechterhalten werden. Wenn etliche Familien lahmgelegt werden, weil ein Kind erkrankt aus der Schule oder dem Kindergarten heimkommt, hat das riesige Folgen für unsere Gesellschaft.
„Es ist wichtig, die psychische Gesundheit der Kinder zu erhalten und ihnen so viel Normalität wie möglich zu bieten. Und das kann ich nur guten Gewissens machen, wenn alle Kinder auch geschützt sind.“
Das heißt: Es ist wichtig, die psychische Gesundheit der Kinder zu erhalten und ihnen so viel Normalität wie möglich zu bieten. Und das kann ich nur guten Gewissens machen, wenn alle Kinder auch geschützt sind und auch von all ihren Bezugspersonen in der Schule geschützt werden.
Ex-Bildungsminister Faßmann schrieb in einem Brief an die Landeshauptleute, der rechtliche Rahmen sei gegeben, dass Bundesschulärzte an Schulen zu Impfungen beraten können und sie auch durchführen dürfen. Wäre es aus ethischer Sicht erstrebenswert, dass Schüler/innen in der Schule geimpft werden?
Also ich kann mir eine Impfung an den Schulen durchaus vorstellen, wenn der rechtliche Rahmen in Bezug auf Aufklärung und Beratung gegeben ist. In meiner Jugend wurden wir auch in der Schule geimpft. Damals waren Impfungen notwendige und gute Maßnahmen, gegen die sich niemand zur Wehr gesetzt hat, sofern sie auch gesundheitlich möglich waren.
Ich glaube, dass die Schule hier schon eine Aufgabe hat. Wenn der Staat durch seine Expertinnen, Experten und Wissenschafter/innen berät und die Impfungen in dieser Altersgruppe zugelassen sind, dann sehe ich kein Problem, dass Impfungen auch heute in den Schulen stattfinden.
Jugendliche dürfen ab 14 Jahren selbst entscheiden, ob sie sich impfen lassen wollen oder nicht. Was empfehlen Sie Lehrkräften, wenn sich ihre Schüler/innen zwar impfen lassen wollen, ihre Eltern es ihnen aber verbieten?
Als mündige Minderjährige können sie das selbst entscheiden. Lehrer/innen sollen vernünftig mit den Kindern im Unterricht reden, aus welchen Gründen ihre Eltern dagegen sein könnten, wie man mit den Eltern darüber sprechen kann und auch, mit wem die Eltern über die Impfung reden können. Schulärzte und Schulärztinnen könnten sich bereit erklären, mit den Eltern zu reden.
Einerseits sollen Lehrpersonen bei sensiblen Themen objektiv und neutral bleiben, andererseits sind sie auch zu wissenschaftlichen Fakten verpflichtet, die eine Impfung empfehlen. Welche Haltung empfehlen Sie ihnen bei der Aufklärung dieses höchst emotional diskutierten Themas der Impfpflicht?
Ich denke, dass Lehrende eindeutig Stellung beziehen müssen und die Meinung der Wissenschaft auch vertreten sollen. Das heißt nicht, dass sie die Corona-Schutzimpfung beschönigend darstellen müssen oder dürfen, sondern sie sollen durchaus auf mögliche Impfreaktionen hinweisen und dass die Impfung nicht zu 100 Prozent wirkt. Aber auch, dass Erkrankungen weniger schwer verlaufen und man nicht auf der Intensivstation landet.
„Lehrende müssen eindeutig Stellung beziehen und die Meinung der Wissenschaft vertreten. Das heißt nicht, dass sie die Impfung beschönigend darstellen müssen.“
Diese Informationen sollen sie wahrheitsgemäß überbringen und auch Stellung beziehen, dass zugelassene Impfungen gut wirken – sei es gegen Pocken, Mumps, Masern, Röteln, Windpocken oder Keuchhusten.
Sollen Lehrer/innen im Unterricht Kinder zum Impfen mobilisieren?
Ja, Lehrer/innen sollen zum Impfen aufrufen und sagen, „Kinder, eine Impfung ist derzeit das einzige Mittel, mit dem wir die Schulen offenhalten können und durch die Pandemie kommen“. Natürlich sollen sie niemanden dazu überreden, aber sie können den Kindern verantwortungsvoll die Position der Wissenschaft, des Gesundheitsministeriums und der Gesundheitsbehörden mitteilen.
Ist das denn der Job von Lehrenden?
Ich kenne nicht die einzelnen Regeln, nach denen Lehrer/innen den Kindern Wissenschaft beibringen sollen. Aber wenn sie auch sagen, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist, können sie durchaus vertreten, dass die Impfung wirkt anstatt davon abzuraten. Ich denke, dass Lehrer/innen schon wissen, wie sie mit den Kindern reden müssen. Sie sind ja dafür ausgebildet, schwierige Themen wie Rechtspopulismus, Nationalsozialismus und Faschismus zu besprechen. Da erwarte ich auch eine klare Haltung.
Es ist schon ein Unterschied, ob Lehrkräfte ein Thema diskursiv im Unterricht behandeln oder ob sie zu einer Handlung wie einer Impfung aufrufen.
Wenn der Staat eine Impfpflicht vertritt, vertritt er sie auch mit Argumenten. In dieser Weise kann man als Lehrer/in diese Argumente den Kindern mitteilen. Es wäre auch gut, wenn Lehrende eine spezielle Schulung bekommen würden, im Sinne eines diskursiven Verfahrens, wie diese Diskussionen mit jungen Menschen zu führen sind. Ich glaube, die Schulbehörde hätte die Aufgabe, die Lehrer/innen dabei zu unterstützen.
Hätten Sie aus Sicht der Bioethikkommission einen Vorschlag, welche didaktischen Methoden geeignet wären, um die Impfpflicht im Unterricht diskursiv aufzuarbeiten?
Man könnte durchaus die Stellungnahme der Bioethikkommission „Pandemie ist keine Privatsache“ mit den Kindern diskutieren. Sie ist kurz und bündig. Darin besprechen wir die Fürsorge für andere, die Solidarität und all diese Aspekte in einem größeren Rahmen. Vielleicht hilft es manchen Kindern aus desinformierten oder noch zweifelnden Familien, dass sie daheim mit einer breiteren Sicht argumentieren können. Das große Problem ist ja, dass Menschen in den Echokammern der sozialen Medien in ihren Ansichten verstärkt werden und keine andere Meinung mehr hören.
In diesen Echokammern werden auch viele Impfmythen verbreitet. Manche sind absurd, manche basieren auf Angst und können entkräftet werden. Welche Quellen würden Sie Lehrenden empfehlen, um diese Impfmythen im Faktencheck aufzuklären?
Von der Stadt Wien ist soeben ein Schreiben ausgeschickt worden, in dem in allen möglichen Sprachen Impfmythen andiskutiert werden. Zum Beispiel, dass die Impfung als Gentherapie gesehen wird oder unfruchtbar machen soll. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn die Schulbehörde den Lehrenden einen kurzen Leitfaden über Impfmythen und die gesetzlichen Grundlagen in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit mitgeben könnte – als Diskussionsgrundlage und damit alle das gleiche Basiswissen haben.
Ein erster Entwurf der Impfpflicht sieht vor, dass Ungeimpfte finanziell sanktioniert werden sollen. Wenn sich 16-jährige Schüler/innen nicht impfen lassen wollen, wäre eine finanzielle Strafe aus ethischer Sicht angemessen?
Ich möchte keine hypothetischen Gesetze beurteilen. Andererseits haben natürlich auch Jugendliche gewisse Verpflichtungen in einer Gesellschaft. Wenn ein 16-Jähriger beim Schwarzfahren erwischt wird, muss er auch eine Strafe zahlen. Ich verstehe, dass die Situation für Eltern und Kinder schwierig ist. Wir sollten aber zurückkommen zur Situation, dass eine Pandemie keine Privatsache ist. Daher hat sich auch die große Mehrheit der Menschen impfen zu lassen, um sich zu schützen, um das Leben für sich und andere wieder in die Normalität zu führen und um die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und bildungsmäßigen Negativfolgen gering zu halten.
„Wir reden immer davon, wie wir mit denen umgehen, die sich nicht impfen lassen wollen und wie wir es ihnen so leicht wie möglich machen können. Aber wir denken nicht an jene, die sich sehr wohl impfen lassen oder sich nicht impfen lassen können.“
Wir reden immer davon, wie wir mit denen umgehen, die sich nicht impfen lassen wollen und wie wir es ihnen so leicht wie möglich machen können. Aber wir denken nicht an jene, die sich sehr wohl impfen lassen oder die wegen einer Vorerkrankung sich nicht impfen lassen können und besonders gefährdet sind. Wir müssen als Gesellschaft hier gesamt eine Entscheidung treffen.
In letzter Konsequenz soll diese Diskussion die Zweifler/innen überzeugen. Birgt eine Impfpflicht die Gefahr, dass die Gräben in der Gesellschaft weiter wachsen, etwa wenn ungeimpfte Menschen gekündigt werden dürfen?
Der Staat muss eine klare Haltung haben, damit diese Haltung auch anerkannt wird. Und wenn die Haltung lautet, wir kommen nur gemeinsam aus dieser Pandemie heraus, wenn wir geschützt und geimpft sind, wenn wir die Krankheit nur in leichter Form übertragen, sodass schwere Erkrankungen vermeidbar sind und das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht, dann wird diese Haltung von der Bevölkerung anerkannt werden. Wir haben auch in anderen Ländern gesehen, dass diese Situation ganz anders bewertet wird, wenn sie klar kommuniziert wird.
Der Papst hat im Vatikan eine Impfpflicht für alle verordnet. Unter den Worten, dass die Impfung ein Akt der Liebe ist – ein Akt der Liebe für sich selber, für den Nächsten und für die Gesellschaft. Und ich glaube, wir sollten das auch so sehen und nicht immer nur die Probleme, die Impfgegner/innen damit erleben. Natürlich wollen wir keine Gräben vergrößern, doch wir graben auch Gräben in der Gesellschaft, wenn das Kind mit dem Herzfehler oder der Mann mit dem Magenkarzinom nicht operiert werden können, weil keine Intensivbetten frei sind.
Wir sind eine Gesellschaft, in der Impfgegner/innen nur ein kleiner Teil sind. Allerdings determiniert ihr Verhalten die gesamte Menge der anderen. Wir müssen das schon auch richtig bewerten.
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