Schwerpunkt: Orientierung
KZ Mauthausen: „Ethische Fragen sind wichtiger als Zahlen der NS-Zeit“
Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen rückt die NS-Zeit auch digital ins Bewusstsein. Gudrun Blohberger erklärt die Bildungsarbeit zwischen Geschichte und Gedenken und warum der Nationalsozialismus junge Menschen auch heute noch betrifft.
Florian Wörgötter - 18. November 2021
„Was hat das mit mir zu tun?“ – Diese Frage stellen sich junge Menschen heute gerne, wenn sie von den schrecklichen Verbrechen der NS-Diktatur hören. In der KZ-Gedenkstätte Mauthausen bestimmt diese Frage den pädagogischen Leitfaden, der sich durch den Rundgang im ehemals größten Konzentrationslager des Landes zieht. Diese Frage leitet auch das neue Online-Unterrichtsmaterial und einen virtuellen Workshop für Schulen.
Gudrun Blohberger verantwortet die Bildungsarbeit in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Im Interview erklärt sie, was Schüler/innen bei einem Rundgang in der Gedenkstätte über die Gegenwart lernen und welche neuen Online-Materialien einen ähnlich nachhaltigen Effekt hinterlassen könnten.
Was jetzt: Frau Blohberger, welches pädagogische Konzept leitet die Bildungsarbeit der KZ-Gedenkstätte Mauthausen?
Gudrun Blohberger: An der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager erzählen wir die Geschichte der NS-Zeit und dieses Verbrechensortes aus verschiedenen Perspektiven. Das heißt: Wir erzählen nicht ausschließlich die Geschichte der Opfer, sondern konfrontieren Besucher/innen auch mit der Geschichte der Täter/innen und wie das KZ in das gesellschaftliche Umfeld eingebettet war. Wir wollen eine Systemgeschichte vermitteln, damit man begreift, wie sich das NS-System in der Gesellschaft etablieren konnte.
Jedoch erzählen wir keine fertige Geschichte, sondern legen großen Wert darauf, mit Besucherinnen und Besuchern ins Gespräch zu kommen. Wir liefern die Grundinformationen, regen aber auch zur Diskussion an, um in gewisser Weise mit ihnen über Geschichte zu verhandeln.
Was wollen Sie mit ihrer Bildungsarbeit in den Köpfen junger Menschen erreichen?
Natürlich stellen sich junge Menschen bei einem Besuch die wichtige Frage: Was hat das mit mir zu tun? Und warum ist es heute noch wichtig, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen? Bei dieser Frage setzt unser pädagogisches Konzept an. Wenn Schüler/innen mit uns die Geschichte und auch ihre persönlichen Geschichtsbilder diskutieren, erzeugen sie automatisch Bezüge zu ihrer Gegenwart.
„Wenn Schüler/innen mit uns Geschichte diskutieren, erzeugen sie automatisch Bezüge zu ihrer Gegenwart.“
Beim Thema „Akzeptanz“ etwa sprechen wir darüber, wie schnell das Konzentrationslager in Mauthausen errichtet wurde; dass es vor den Augen vieler Menschen aus der Umgebung betrieben worden ist; dass diese Menschen die ankommenden Häftlinge und den Rauch aus den Kaminen gesehen haben; dass sie von den Verbrechen gewusst haben müssen. In der Diskussion ziehen Schüler/innen dann Parallelen zur Jetztzeit und fragen sich: Wo sieht man heute einfach nur zu, wenn gegen Menschenrechte verstoßen wird, ohne dass man tätig wird?
Was entgegnen Sie jungen Menschen, wenn diese meinen, die NS-Verbrechen hätte die Generation ihrer (Ur-)Großeltern verantwortet – ihre eigene Generation treffe aber keine Schuld und habe damit auch nichts mehr zu tun?
Ich unterstreiche, dass die junge Generation keine Schuld an den NS-Verbrechen hat. Doch sie hat eine Verantwortung, da die NS-Zeit ein Teil unserer Geschichte ist. Ob man in Österreich oder woanders sozialisiert worden ist – die Verbindungslinien der NS-Zeit reichen überall bis in die Gegenwart. Es stellen sich die Fragen, wie die NS-Zeit in der heutigen Gesellschaft nachwirkt und wie ihr Denken und Handeln von Generation zu Generation tradiert wird. Darum müssen wir uns kümmern. Wir müssen bewusst reflektieren und hinschauen, wie wir unsere Gesellschaft gestalten – vor allem dort, wo es um Macht und Ohnmacht geht.
Mit welchen pädagogischen Maßnahmen erreichen Sie diese Ziele?
Indem wir mit Lehrerinnen und Lehrern zusammenarbeiten. Wir erklären die Einbettung in den Unterricht regelmäßig bei Fortbildungen an der Pädagogischen Hochschule oder an Universitäten in der Ausbildung von angehenden Lehrerinnen/Lehrern. Weiters kooperieren wir mit erinnern.at, dem Holocaust Education Institute des Unterrichtsministeriums. Wir stellen auch Unterrichtsmaterialien bereit.
Beim Gedenkstättenbesuch wollen wir für Schülerinnen und Schülern ein Lernklima für Fragen und Diskussionen schaffen. Beispielsweise führen wir sie an einen ehemaligen Fußballplatz der SS, der direkt an ein Gefangenenlager angrenzte. Wenn wir von den Meisterschaftsspielen erzählen, meinen Besucher/innen oft, die Leute aus der Umgebung hätten die SS-Mannschaft bejubelt, damit ihnen nichts passiert. Andere vermuten, die Anrainer/innen hätten sich nicht um die Gefangenen in den Baracken gekümmert, weil sie sich im Recht gefühlt hätten. Diverse Zugänge zu diskutieren bringt das Nachdenken über die NS-Zeit weiter.
Zeitgemäße Bildungsarbeit versucht im besten Fall, die Jugend in ihrer Lebenswelt abzuholen – und das funktioniert sehr oft über „Infotainment“. Wie gelingt der KZ-Gedenkstätte Mauthausen der Spagat zwischen respektvollem Gedenken und zugänglicher Geschichtsvermittlung für Jugendliche?
Das ist ein großes Thema für uns. In meiner Zeit vor der Gedenkstätte war ich im Bereich der Museumspädagogik tätig. Da stand uns ein viel breiteres Spektrum an Vermittlungsmethoden offen. Wenn wir heute neue Vermittlungsformate konzipieren, haben wir die Frage zu klären: Was ist dem Ort angemessen? Wie können wir Vermittlungsarbeit leisten, die junge Leute gut annehmen und trotzdem das Andenken an die Opfer zu wahren? Das geht so weit, dass wir darüber diskutieren, ob es angemessen ist, sich an einer Gedenkstätte hinsetzen zu dürfen, um etwas zu essen. Doch wir müssen Lernorte eröffnen, in denen sich die Menschen konzentriert mit dem Ort auseinandersetzen können.
Haben Sie einen Leitsatz für angemessene Geschichtsvermittlung gefunden?
Was sich bei uns in den letzten Jahren stark verändert hat: Wir moralisieren nicht mehr. Natürlich arbeiten hier viele Kolleginnen und Kollegen aus persönlicher Überzeugung, weil sie es wichtig finden, die NS-Geschichte und ihre Verbrechen weiterzuerzählen. Aber wir tun das heute ohne moralisierenden Habitus, weil wir damit eher Barrieren errichten als ins Gespräch zu kommen.
„Wir moralisieren nicht mehr, weil wir damit eher Barrieren errichten als ins Gespräch zu kommen.“
Die „Betroffenheitspädagogik“ der 1980er- und 1990er-Jahre hat sich gewandelt – weg vom fast ausschließlichen Blick auf die Opfer der NS-Zeit hin zum Erzählen der Systemgeschichte und der Diskussion des gesellschaftlichen Umfeldes. Ansonsten wären diese komplexen Vorgänge der NS-Zeit auch nicht zu verstehen.
Videos und Schulbücher dokumentieren den Terror, der Menschen in Konzentrationslagern angetan wurde. Beim Betreten eines ehemaligen KZ konkretisiert sich diese Leidensgeschichte auf greifbare Weise. Inwieweit gelingt es Ihrem Online-Unterrichtsmaterial, diese direkte Erfahrung in die Köpfe junger Menschen zu bringen?
Mit dieser Frage haben wir uns in den letzten zwei Jahren intensiv beschäftigt, als wir unsere digitalen Bildungsmaterialien entwickelt haben. Natürlich haben Online-Bildungsangebote ihre Grenzen, denn einen „authentischen“ Ort der NS-Geschichte physisch zu besuchen, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck und auch Fragen, die man nicht mehr vergisst. Dennoch wollen wir junge Leute und Interessierte unterstützen, sich auch online mit dem KZ Mauthausen auseinanderzusetzen. Bestenfalls begleiten unsere Online-Materialien die Vor- und Nachbereitung eines Besuchs der Gedenkstätte.
Welches Online-Unterrichtsmaterial empfehlen Sie für einen nachhaltigen Eindruck?
Soeben haben wir die Webseite „Lebenswege nach Mauthausen“ präsentiert. Wir zeigen individuelle Lebensgeschichten von Menschen, die Verbindungslinien zum KZ Mauthausen haben. Zeichner/innen der Kunstschule Wien haben die Biografien illustriert; ihre Geschichte kann also auch verstanden werden, ohne viel lesen zu müssen. Das kostenlose Online-Material ist für die Vor- und Nachbereitung eines Gedenkstättenbesuchs konzipiert. Es dient auch als erster Schritt, um sich der Geschichte des KZ Mauthausen anzunähern.
Welches Online-Material empfehlen Sie zur Vertiefung?
Wir haben voriges Jahr etwa 50 Kurzvideos mit zugehörigen Arbeitsblättern gestaltet. Zehn davon zeichnen thematisch einen Rundgang durch die KZ-Gedenkstätte Mauthausen nach. Weitere 40 Videos widmen sich speziellen Themen wie „Kinder und Jugendliche im KZ“, „Frauen im System Mauthausen“ oder „Medizin im KZ“.
Worum geht’s im Video „Kinder und Jugendliche im KZ“?
Ein Denkmal an der Gedenkstätte erinnert an die jüngsten Häftlinge im KZ Mauthausen. Im 5-Minuten-Video erzählen die Vermittler/innen die Geschichte von Kindern und Jugendlichen, wie diese ins KZ Mauthausen gekommen sind und welche Lebens- und Überlebenschancen sie hatten. Im begleitenden Arbeitsblatt regen wir zur weiteren Recherche an und fragen, wo auch heute noch Kinderrechte missachtet werden.
Sie wollen noch im November den virtuellen Workshop „Gedenkstätte digital: Mit Abstand“ starten. Was erwartet Schulklassen ab der 8. Schulstufe?
Wir haben im Vorjahr festgestellt, dass unsere Videos und Arbeitsblätter den Lehrenden im Unterricht zwar helfen, doch uns fehlt der direkte Austausch mit den Gruppen. Deswegen haben wir in Kooperation mit dem Bildungsministerium und erinnern.at einen Online-Workshop für Schulklassen ab der 8. Schulstufe konzipiert. In zwei Unterrichtseinheiten schalten wir uns via Livestream ins Klassenzimmer; die Lehrer/innen kümmern sich um die Vor- und Nachbereitung des Workshops.
„Wie war es möglich, dass der Nationalsozialismus innerhalb kurzer Zeit vom Großteil der Gesellschaft mitgetragen wurde? Dem müssen wir uns widmen, wenn wir aktuell gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen.“
Zum Einstieg erzählt ein Film die Eckdaten zur Historie des KZ Mauthausen. Dann ermitteln wir in einem Fragebogen den Wissensstand und die Fragen der Schüler/innen zur NS-Zeit. Darauf aufbauend erstellen unsere Vermittler/innen den Online-Workshop. Schüler/innen können dabei in Arbeitsgruppen im virtuellen Raum diverse Themen diskutieren wie etwa „Leben und Sterben im KZ Mauthausen“, „Gedenken in der Nachkriegszeit“ oder „Wer waren die Gefangenen im KZ Mauthausen“? Die verschiedenen Schwerpunkte werden dann im Plenum besprochen.
Was empfehlen Sie Lehrenden, wenn sie ein historisch belastetes Thema wie den Nationalsozialismus vermitteln wollen?
In der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit soll es weniger darum gehen, Zahlen und Fakten zu vermitteln. Wichtiger ist es, ethisch-moralische Fragen, die sich von der NS-Zeit ableiten, und die gesellschaftliche Verantwortung zu diskutieren.
Welche Frage ist Ihrer Ansicht nach die Wichtigste?
Noch eine zweite Frage leitet unsere Bildungsarbeit: Wie war es möglich, dass inmitten einer Gesellschaft 100.000 Menschen ermordet wurden? Sucht man nach einer Antwort, kommt man nicht umhin, sich mit der Systemgeschichte auseinanderzusetzen. Wie war es möglich, dass sich der Nationalsozialismus innerhalb kurzer Zeit so stark etablieren konnte, dass er von einem Großteil der Gesellschaft mitgetragen wurde? Das ist der zentrale Punkt, dem wir uns widmen müssen, wenn wir auch aktuell gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen.
Im aktuellen WissenPlus finden Sie Unterrichtsmaterial der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.
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