Schwerpunkt: Medienkompetenz
Fake oder Fakten? So reinigt Mimikama.at das Internet
Die Webseite mimikama.at filtert täglich das Internet nach Fakes und Fakten. Experte Andre Wolf erklärt, auf welchen Plattformen die Falschmeldungen lauern und wie Lehrende vor Glücksspielen, Geistern und Challenges warnen.
Florian Wörgötter - 9. Juni 2020
Fake News, Abofallen, Spammails – wenn ein neuer Fake im Internet kursiert, empfiehlt sich ein Blick auf die Webseite mimikama.at. Der „Verein zur Aufklärung über Internetmissbrauch“ prüft täglich, welche Fakten hinter potenziellen Fakes stecken.
Kommunikationsexperte Andre Wolf ist einer der 30 Faktenchecker/innen vom Dienst. Im Interview erklärt der studierte Theologe, wie Faktenchecks funktionieren, auf welchen Plattformen die Jugendlichen unterwegs sind und wie Lehrer/innen ihr digitales Ich verstehen.
Was jetzt: Wie erkennt Ihr bei Mimikama denn Fake News?
Andre Wolf: Wir kriegen täglich um die hundert Hinweise zu möglichen Fakes im Internet zugeschickt. Die ersten Wochen der Corona-Krise waren es sogar über 400 Anfragen am Tag. Über die Jahre erkennt man die wiederkehrenden Geschichten und Erzählstrukturen, von denen manche neu erscheinen, viele aber stumpf dupliziert werden.
Als studierter Theologe habe ich gelernt, das Buch schlechthin, die Bibel, zu interpretieren. Und genau diese Recherche-Methoden – die vergleichende Arbeit (Synoptik), das Untersuchen von Aussagen auf Herkunft und Inhalte (Exegese) – wenden wir in unserer Arbeit bei Mimikama auch an.
Anhand der recherchierten Fakten erzählen wir bei Mimikama dann eine Geschichte, denn erst durch eine Geschichte merken sich Menschen die Fakten. Dummerweise funktionieren so auch Falschmeldungen.
Mit welchen Tools arbeiten Faktenchecker/innen?
Mit dem gesunden Hausverstand. Wir bei Mimikama haben keine technischen Tools. Wir machen alles mit dem Kopf, der Vernunft, der Analyse und der Ruhe. Wichtig ist, sich nicht überrennen zu lassen. Auch wir stehen manchmal vor der Hürde, dass wir über ein kritisches Thema schreiben sollten, man aber erst Ergebnisse abwarten muss, um mit der Zeit zu erkennen, ob ein Inhalt stimmt oder nicht.
Welche Arten von Falschmeldungen bedrohen das Internet?
Wir haben drei Charakteristika von Falschmeldungen ausgemacht. Erstens: Meldungen von Internet-Nutzerinnen und Nutzern, die etwas beobachten, falsch interpretieren und dann auf Social Media weitergeben – entweder über Messenger oder klassische Plattformen.
„Trolle übernehmen gerade den gesamten Bereich von Verschwörungsmythen. Sie überspitzen Fake-Meldungen bewusst, damit man merkt, wie absurd sie sind.“
Zweitens: Trollerei oder Satire, die als solche nicht erkannt wird. Wer solche Fakes in die Welt setzt, hat Spaß daran, andere auf die Schippe zu nehmen. Wir beobachten aktuell das Phänomen, dass Trolle den gesamten Bereich von Verschwörungsmythen übernehmen. Sie überspitzen in Fake-Meldungen eine Thematik bewusst, damit man merkt, wie absurd sie ist – wie etwa eine Chemtrail-Pilotenvereinigung, die gar nicht existiert.
Drittens: Der bedrohlichste Typ von Falschmeldungen ist die beabsichtigte Manipulation, entweder aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen. Da wird es gefährlich, denn hier soll jemand zu Gunsten Dritter in die Irre geleitet werden.
Was sind aktuell die bedrohlichsten Falschmeldungen für BHS-Schüler/innen?
Man muss differenzieren, weil sich junge Menschen auf anderen Plattformen aufhalten als ältere. Junge Menschen sind nicht mehr bei Facebook. Wer davon spricht, dass bei Facebook viele Fakes unterwegs sind, hat vergessen, dass diese Fakes darauf ausgelegt sind, dass ältere Menschen darauf reinfallen. Daher ist es mindestens genauso wichtig, Medienkompetenz für Menschen jenseits der Schule beizubringen.
Die Jugendlichen verbringen ihre Zeit heute auf Instagram, TikTok, WhatsApp und YouTube. Welche Falschmeldungen kursieren dort?
Auf Instagram kursieren interessanterweise sehr wenig Falschmeldungen. Das mag daran liegen, dass man schlichtweg keine Links posten kann, um Falschmeldungen zu verbreiten. Jedoch: Politisch-extreme Gruppierungen geben sich auch hier relativierend harmlos und vermitteln ihre politisch brisanten Inhalte.
Auf TikTok besteht die Gefahr höchstens darin, dass nicht ganz so saubere Challenges auftauchen oder hie und da ein Kettenbrief verteilt wird.
90 % aller Jugendlichen sind auf YouTube und WhatsApp unterwegs. Dort verängstigen Kettenbriefe, speziell Horror-Kettenbriefe, die Jüngeren der Jungen, wenn sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Das Beispiel der „Momo-Kettenbriefe“ hat deutlich gezeigt, dass weder Eltern noch Lehrer/innen ihnen helfen konnten, weil sie das Phänomen schlichtweg nicht erklären können.
Was waren die Auswirkungen dieser „Momo-Kettenbriefe“?
Vor eineinhalb Jahren sollte ein Kettenbrief weitergeleitet werden, der sagte: „Ich bin Momo und ich bin verstorben. Wenn du diesen Kettenbrief nicht weiterleitest, schlafe ich heute Mitternacht unter deinem Bett und du wirst auch sterben.“
„Die ,Momo-Horror-Kettenbriefe‘ zeigten deutlich, dass weder Eltern noch Lehrer/innen den Kindern helfen konnten, weil sie das Phänomen nicht erklären konnten.“
Daraufhin haben YouTuber zu diesem Kettenbrief dämliche Videos verbreitet, in denen Momo sie um 12 Uhr angerufen hat. Das waren natürlich sogenannte Pranks, also Fakes. Viele Jugendliche haben diese Videos ihrer großen Idole dennoch geglaubt und hatten Angst vor den Kettenbriefen.
… und dann kam auch noch die „Momo-Challenge“.
Jugendliche sollten 50 Aufgaben ausführen, die letzte wäre der eigentliche Selbstmord gewesen. Das Absurde: Diese Challenge hat es nie gegeben, aber vor eineinhalb Jahren haben Schulen, Medien und Polizei davor gewarnt. Dementsprechend wurden alle Menschen verrückt gemacht – wegen eines Phänomens, das nicht existiert. Da haben wir gesehen, welche Eigendynamik ein solches Thema auch entwickeln kann.
Das Dilemma von Lehrenden: Ihnen fehlt die Erfahrung mit diesen Plattformen und den Inhalten darauf. Wie erklärt man seinen Schülerinnen und Schülern, dass solche Kettenbriefe kein Grund zur Sorge sind, sondern eher ein Grund zum Ignorieren?
Lehrer/innen sollten wissen: Welche Kettenbriefe sind unterwegs? Welche Mechanismen nutzen sie? Normalerweise sind Falschmeldungen und Kettenbriefe dynamisch und basieren auf älteren Vorbildern. Wenn man diese kennt, kann man Neuere leichter identifizieren.
Den Schüler/innen empfehle ich: Beende die Kette, indem du den Kettenbrief nicht weiterschickst. Wenn du Angst hast, sprich mit Eltern, Freunden und Freundinnen oder Lehrerenden. Informiere dich, was dahinter stecken könnte.
Sie unterrichten auch angehende Lehrer/innen an Pädagogischen Hochschulen. Was bringen Sie ihnen bei?
Wir zeigen Lehrer/innen, wie Social Media und ihre Kommunikationswege funktionieren. Wir erklären, was Messenger wie WhatsApp von Plattformen wie Facebook und Twitter unterscheiden und wo die Jugendlichen unterwegs sind. Dann geben wir ihnen an die Hand, wie Falschmeldungen aussehen, welche Charakteristika sie kennzeichnen und wie man dagegen angeht.
Mimikama hat auch im Auftrag des Bildungsministeriums Unterrichtsmaterial erstellt.
In einer Videoreihe (3−5 Minuten) erklären wir, wie Medien und Social Media funktionieren. Mit den passenden Übungen dazu spricht man im Unterricht über die eigenen Erfahrungen. Wichtig: Es gibt bei Medienkompetenz kein richtig oder falsch, sondern nur: Wie kann ich mich souverän verhalten und dementsprechend Falschmeldungen und Manipulation abwehren?
Wie können Schüler/innen Falschinformationen erkennen?
Indem sie einen souveränen Umgang mit Medien und deren Inhalten erlernen: Wo kommen die Inhalte her? Welche Geschichten stecken dahinter? Wir sprechen von Narrativen und Framing, also mit welchen Schlagworten wird versucht, einen zu beeinflussen?
„Medienkompetenz kennt kein Richtig oder Falsch, sondern nur: Wie kann ich mich souverän verhalten, und Falschmeldungen und Manipulation abwehren.“
Lehrer/innen sollten ihren Schülerinnen und Schülern auch beibringen, dass es innerhalb von Medien auch Qualitätsunterschiede gibt. Es gibt den Boulevard-Journalismus, aber auch einen Journalismus auf höherem Level. Was genau ist der Unterschied zwischen OE24 und DiePresse? Wie arbeiten sie Infos auf? Das sollte man erklären, ohne zu werten.
Wie bringt man Pubertierende zu einer Diskussion ihres Medienkonsums?
Wenn die Schüler/innen von ihren Erfahrungen erzählen, sollte man sie nicht abwerten, sondern aufgreifen. Wichtig ist, Beispiele zu bringen, in denen sie sich wiedererkennen. Wenn man über Social Media redet, sollte man immer wissen, was gerade aktuell ist. Alte Beispiele sollte man mit aktuellen Vorfällen verknüpfen.
Das Internet erfindet selten neues, sondern greift alte Phänomene auf und lässt sie dynamisch werden: Neue Kettenbriefe basieren auf alten Kettenbriefen. Narrative wiederholen sich. Gerade in der Corona-Krise haben wir bemerkt, dass uralte Verschwörungslegenden und Narrative erneut erschienen sind. Man könnte im Unterricht toll erklären, wie sie sich entwickelt haben und warum sie wieder auftauchen. Einfach kurz vorher informieren: Was ist gerade unterwegs? Wie kann man es erklären? Wie kann ich es zeigen?
Aktuell haben Sie gerade ein Fake-Gewinnspiel entlarvt: Versandhaus Otto verlost eine Playstation? Was war daran fake?
Bei Fake-Gewinnspielen sprechen wir meist von einem Dreistufen-Modell. Alles beginnt mit einem Köder auf Social Media: „Kommentiere, like und du gewinnst eine Playstation“. Der zweite Schritt: Du wirst auf eine Webseite geleitet, die dir sagt: „Du hast gewonnen!“. Beide Schritte sind eindeutiger Betrug.
Man wird gebeten, seine Daten preiszugeben, damit der Gewinn auch zugesandt werden kann. Im dritten Schritt landet man dann entweder bei Datenhändlern, die deine Daten weiterverkaufen, oder man erhält Werbung von dubiosen Firmen oder hat unfreiwillig ein Abo abgeschlossen.
Woran erkennt man auf einen Blick, dass ein Gewinnspiel fake ist?
Die wichtigen Checks: Befinde ich mich wirklich beim offiziellen Veranstalter, der das Gewinnspiel lanciert? Hat der Account ein Verifizierungshäkchen? Und steht das auch so im Impressum?
Sollte auf einer echten, verifizierten Seite dieses Gewinnspiel fehlen, dann weiß man, das Gewinnspiel ist fake. Im Regelfall animieren seriöse Gewinnspiele eher weniger zum Kommentieren oder Markieren von anderen Personen.
Welche Rolle spielen Social Bots heute – und wie entlarvt man sie?
Man muss schon sagen: Social Bots sind eine potenzielle Gefahr, die vor Jahren ganz klar überschätzt wurde. Sie spielen eher im politischen Diskurs eine Rolle.
Aktuell springt eine Menge von Bots auf den Hashtag Black Lives Matter an. Sie posten gegenteilige oder relativierende Aussagen und verknüpfen Unsinn. Mit dem Ziel: den Hashtag zu kapern, um die Geschehnisse in den USA in ein falsches Licht zu stellen.
Letztendlich kommen Jugendliche aber seltener mit Social Bots in Kontakt. Auf Instagram sind kaum manipulative Bots unterwegs. Auf YouTube sind Fake-Accounts höchstens in den Kommentaren unter den Videos aktiv, aber wenige davon sind Social Bots. Auch auf Facebook haben wir kaum Social Bots ausmachen können, was an der Komplexität von Facebook liegt.
Unser Resümee: Social Bots spielen keine enorm große Rolle mehr.
Für welche manipulativen Fake News sind Jugendliche besonders anfällig?
Ob Fake News dich ansprechen, entscheidet nicht dein Alter oder die Bildung, sondern ob sie dich betreffen. Zum Beispiel: Kursiert die Nachricht, dass ein Lieferwagen durch deinen Ort fährt und Kinder entführt, fühlen sich alle im Ort betroffen, die Kinder haben oder Kinder sind.
„Ob Fake News dich ansprechen, entscheidet nicht dein Alter oder die Bildung, sondern ob sie dich betreffen. Von Corona ist die ganze Welt betroffen.“
Ganz extrem zeigte das die Corona-Krise: Hier sind immens viele Falschmeldungen unterwegs, weil die ganze Welt betroffen ist. Dementsprechend sind auch umso mehr auf diese Falschmeldungen hereingefallen.
Wie erkennt man eine beabsichtigte Manipulation hinter einer Falschmeldung?
Schwierig. Man sollte auf die Indizien achten: Wie stark ist eine Meldung von Schlagworten geprägt? Will mich jemand zwingen, dass ich etwas Bestimmtes glaube? Werden bestimmte Narrative absichtlich genutzt?
Nicht immer ist klar, ob jemand absichtlich manipuliert oder gutgläubig Falsches verbreitet, weil er denkt, dass es richtig sei. Die Überbringer von Fake News sind häufig keine Trolle, sondern Menschen, die felsenfest überzeugt sind, dass diese Fakes wahr sind.
Wie sollen Jugendliche reagieren, wenn ihre Freundinnen und Freunde zweifelhafte Aussagen von politischen Agitatoren und Agitatorinnen weiterleiten?
Auch nicht einfach. Wenn man eine Falschmeldung erkennt, sollte man freundlich, nett und – wenn möglich – faktenbasiert darauf hinweisen: Du, ich glaub das nicht. Ich möchte auch nicht, dass du mich damit konfrontierst.
Wenn Dinge besonders dramatisch und unglaubwürdig erscheinen, sollte man seinen Medienkonsum entschleunigen und solche Nachrichten erst gar nicht weitergeben, solange keine Gewissheit besteht, dass sie auch stimmen.
Ihr Faktenchecker müsst auch oft gegen den Strom schwimmen, oder?
Ein aktuelles Beispiel von heute morgen [Anm: Freitag, 5. Juni]: Medienberichte weltweit sprechen von einer sogenannten „George Floyd-Challenge“. Offenbar machen sich Menschen einen Spaß daraus, in einer Challenge nachzustellen, wie George Floyd gestorben ist.
Wir haben uns morgens hingesetzt und mal die Bilder nachgezählt. Das Ergebnis: Insgesamt finden sich keine zehn Fotos davon im Internet. Doch Medien lassen diese Bilder um die Welt gehen. Letztendlich hat diese „Challenge“ überhaupt keine Relevanz, nur weil ein paar Idioten sie machen.
Wie aber erklärt man das? Du musst den vielen Stimmen als einzige dagegenhalten. Für Jugendliche ist das natürlich schwieriger als für uns.
Wie bringt man Menschen die Verantwortung für soziale Medien bei?
Tolle Frage. Daran arbeiten wir seit Jahren (lacht). Falschmeldungen spielen ja immer auch mit Vorbehalten, Vorurteilen und Narrativen. Der Anfang ist, dass man sich selbst reflektiert und das eigene Ich hinterfragt – sowohl digital als auch real. Wer bin ich im Netz? Wie reagiere ich auf Inhalte? Und wie selbstkritisch bin ich überhaupt?
„Hinterfrage dein reales und digitales Ich. Wer bin ich im Netz? Wie reagiere ich auf Inhalte? Wie selbstkritisch bin ich überhaupt?“
Gerade für Menschen jenseits der 30 ist es eine völlig neuartige Situation, dass Medienkonsum heute nicht mehr nur linear und passiv verläuft, sondern interaktiv.
Die Jugend von heute ist bereits mit sozialen Netzwerken herangewachsen. Kann sie besser mit Falschmeldungen umgehen als Erwachsene?
Jugendliche haben das Bewusstsein, dass Falschmeldungen existieren. Sie erkennen Fakes, weil sie spielerischer und intuitiver damit umgehen. Deshalb sind sie auch weniger pessimistisch in ihrer Herangehensweise.
Gerade der Babyboomer-Generation fällt es extrem schwer, Falschmeldungen zu entlarven. Sie ist es nicht gewohnt, dass Fakes an sie herangetragen werden.
Das sieht man an Diskussionen auf Facebook, sonst würden würden nicht so viele es für wahr halten, wenn Sänger Xavier Naidoo und Vegankoch Attila Hildmann behaupten, dass Kindern in unterirdischen Höhlen irgendwelche Hormone entnommen werden.
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Ein Beitrag aus der Was jetzt-Redaktion.