Schwerpunkt: Wandel

„Innovation wird an den Schulen oft nicht anerkannt“

Andreas Schleicher ist Bildungsdirektor der OECD und Chef der PISA-Studie. Im Gespräch mit Was jetzt erklärt er, warum wir uns vom industriellen Bildungsmodell verabschieden sollten und weshalb Lehrkräfte zur Weiterbildung nicht in Kurse müssen.

Das Gespräch führte Stefan Schlögl - 11. Dezember 2019

 

 

In Ihrem aktuellen Buch beschreiben Sie die fünf besten Bildungssysteme weltweit: Singapur, Estland, Kanada, Finnland sowie Shanghai und fokussieren dabei auf den „Wandel erfolgreicher Schulsysteme“. Welchen Wandel haben die so erfolgreich hinbekommen?

In Europa denken wir noch immer in einem industriellen Bildungsmodell, das strikt von oben nach unten organisiert ist. Da erlässt ein Ministerium einen schönen Lehrplan, und der wird überall gleichförmig umgesetzt. Also stehen viele Lehrerinnen und Lehrer allein in ihrer Klasse und machen Pädagogik nach Plan, statt sich als gestaltender Teil des Bildungssystems einzubringen.

Gerade angesichts der laufenden Transformationen sollten wir uns fragen, was die tragenden menschlichen Fähigkeiten sind und wie wir diese entwickeln. Das wurde in den genannten Ländern verstanden. Was ich aber auch sagen muss: Mit der dualen Ausbildung ist Österreich teilweise richtig gut aufgestellt.

 

„Lehrkräfte haben ein breites Aufgabengebiet. Gleichzeitig aber hat jeder individuelle Stärken oder
spezielle Interessen. Und die müssen gehoben werden“, sagt OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher.
Foto: OECD

 

Warum?

Weil in einer sich wandelnden Gesellschaft die strikte Trennung von akademischer und praktischer Ausbildung immer mehr an Wert verliert. Es geht ja nicht darum, etwas zu wissen, sondern darum, wie ich dieses Wissen umsetze. Wie kann es auf neue Gebiete übertragen werden? Was sind praktische Anwendungen?

Vor allem die Bedeutung von sozialen und emotionalen Fähigkeiten nimmt enorm zu – und da ist Bildung am Arbeitsplatz eine entscheidende Quelle. Da wird in realen Bezügen gelernt, wenn ein Fehler passiert, müssen sie dann auch die Folgen managen. Auf der Uni hingegen verschwindet ein misslungenes Projekt einfach im Papierkorb.

 

Apropos Folgenmanagement: In Österreich ist, wenn es um die PISA-Ergebnisse geht, nicht alles eitel Wonne. Im OECD-Vergleich sind wir nur Mittelklasse. Was sind Ihrer Einschätzung nach die wichtigsten drei Punkte, damit es im Ranking nach oben geht?

Erstens: höhere, anspruchsvollere Ziele setzen. Die Toleranz gegenüber Fehlleistungen ist meines Erachtens viel zu hoch. Ungleich größer ist die zweite Herausforderung: die besten Köpfe für den Lehrerberuf zu gewinnen und diesen Menschen auch ein Arbeitsumfeld zu bieten, das ihnen viel mehr Freiraum lässt. Mit einem guten Gehalt allein lassen sich diese Leute nicht motivieren, sie wollen intellektuell animiert werden.

 

„Mit einem guten Gehalt allein lassen sich diese Leute nicht motivieren, sie wollen intellektuell animiert werden.“

 

Heißt: mehr Raum für Verantwortung und Kreativität, mehr Arbeit im Team, weg vom Vermittler von Wissen hin zum Gestalter innovativer Lernumfelder. Und drittens: Wie gewinnt man die fähigsten Lehrkräfte für die schwierigsten Herausforderungen? In Singapur etwa ist es ganz selbstverständlich, dass Lehrer auch einmal eine gewisse Zeit an Brennpunktschulen unterrichten.

 

Ein Punkt, der in Ihrem Buch hervorgehoben wird, ist das Setzen von Karriereanreizen.

Lehrkräfte haben ja prinzipiell ein breites Aufgabengebiet. Gleichzeitig aber hat jeder individuelle Stärken oder spezielle Interessen. Und die müssen gehoben werden.

Wieder Beispiel Singapur: Dort werden Sie gleich an Ihrem ersten Tag an der Schule gefragt, wie Ihre Karriereplanung aussieht. Wollen Sie eher in die Klasse, in die Verwaltung oder in die Lehrerausbildung?

Und von da an wird gemeinsam mit der Schulleitung und Mentoren an dieser Karriere gearbeitet. Gleichzeitig erhalten Sie von Kollegen, Schülern und Vorgesetzten laufend Feedback, wo Sie in diesem Prozess stehen. Und so erhält man immer wieder Anreize und kann auch besser mit Veränderung oder Neuem umgehen.

 

Im österreichischen Schulsystem wird Innovation offensichtlich ambivalent gesehen. In einer OECD-Studie wurde in mehreren Ländern Lehrern die Frage gestellt: „Wirkt es sich positiv aus, wenn Sie den Unterricht innovativer gestalten?“ In Österreich antworteten 72 Prozent der Lehrkräfte: „Nein, eher sogar negativ.“ Was ist da passiert?

Da kommen zwei Dinge zusammen: Im internationalen Vergleich sind in Österreich die Freiräume für Lehrer nicht nur relativ klein, sie werden auch nicht voll genutzt. Das liegt auch am Arbeitsklima an den Schulen. Innovation und Engagement werden oftmals nicht anerkannt. Unter der fehlenden Wertschätzung leidet dann das individuelle Selbstkonzept.

 

„Im Mittelpunkt steht die Frage: Welchen Beitrag kann ich leisten, um die Schule, das Bildungssystem voranzubringen? Und nicht, ob der Lehrplan brav befolgt wird.“

 

Anders in Shanghai: Hier können Lehrer etwa ihre Unterrichtspläne oder Lernmaterialien auf eine Plattform stellen, und je öfter das von ihren Kollegen heruntergeladen oder weiterentwickelt wird, umso höher ist ihr Status. Im Mittelpunkt steht also die Frage: Welchen Beitrag kann ich leisten, um die Schule, das Bildungssystem voranzubringen? Und nicht, ob der Lehrplan brav befolgt wird.

 

In Summe klingt das nach: „Einfach mehr laufen lassen – und auf das innovative Potenzial von Lehrerinnen und Lehrer vertrauen.“

Auf alle Fälle. Gleichzeitig muss aber klar sein, dass man sich dabei auf eindeutige Zielsetzungen verständigt und regulatorische Mechanismen setzt, um die Qualität zu sichern. Denn am Ende zählt nur eines: jedem Schüler exzellente Lernmöglichkeiten zu bieten.

Angesichts der diversen Transformationen wird bei Lehrerinnen und Lehrern der Ruf nach mehr und zeitgemäßer Weiterbildung laut. Ganz generell sollten wir weniger über die Erstausbildung und viel mehr über Weiterbildung reden. Heute stehen Lehrkräfte vor Veränderungen, die man auf der Uni vor 15 Jahren nicht einmal abschätzen konnte. Denken Sie an Integration, Inklusion, neue Technologien. Und da bringt es nur wenig, mal einen Kurs zu machen. Stattdessen sollte die gesamte Arbeitsorganisation an der eigenen Schule auf Fortbildung ausgerichtet sein.

Nehmen Sie Estland, Singapur, Shanghai: Dort ist Weiterbildung vor Ort ganz selbstverständlich, an den Schulen wird sogar Forschungsarbeit geleistet. Sie können Ihre eigenen Schülerinnen und Schüler ja nicht auffordern, lebenslang zu lernen, wenn Sie das nicht selbst jeden Tag vorzeigen.

 

Digitaler Wandel, künstliche Intelligenz, dazu vernetztes Lernen, Kreativität, Entrepreneurship. Verstehen Sie Lehrkräfte, die sagen, dass das ein wenig zu viel Veränderung auf einmal ist?

Absolut. Aber die Antwort kann nicht sein, jetzt plötzlich die Welt anzuhalten. Schließlich betrifft diese Transformation alle Menschen. Tatsächlich müssen wir die Lehrerinnen und Lehrer bei diesem Wandel stärker unterstützen.

 

„Noch immer wird von den Schülerinnen und Schülern verlangt, breites Oberflächenwissen auswendig zu lernen. Doch damit können sie keine komplexen Probleme lösen.“

 

Gerade die Digitalisierung bietet da richtig gute Chancen. Zum einen kann damit der bürokratische Aufwand verringert werden, zum anderen hilft sie, Pädagogik innovativer zu gestalten, das Lernklima zu verbessern und die Lehrkräfte besser zu vernetzen. Das sind genau die Unterstützungssysteme, die wir brauchen.

 

Dennoch: Zeit ist nicht unendlich vorhanden. Wenn immer mehr Inhalte dazukommen, muss woanders etwas abgeknapst werden. Wird der Turnunterricht durch Fitness-Apps ersetzt? Oder Geografie durch Google Maps?

Natürlich muss man auch bei den Lehrplänen ansetzen, auf Inhalte verzichten. Im Gegenzug sollte das, was unterrichtet wird, wirklich vertieft werden.

Noch immer wird von den Schülerinnen und Schülern verlangt, breites Oberflächenwissen auswendig zu lernen. Doch damit können sie keine komplexen Probleme lösen, oder ihr Wissen auf neue Zusammenhänge übertragen. Es gibt einigen Ballast, den man aus den Lehrplänen streichen könnte.

 

Haben Sie ein Beispiel?

Ich hab mich oft gefragt, warum in Deutschland oder Österreich so viel Wert auf Trigonometrie gelegt wird. Jeder Mathematik-Lehrer kann Ihnen jetzt wahrscheinlich auch begründen, warum das wichtig ist. Doch fragen sie einmal in der Arbeitswelt nach, und die Antwort wird sein: Trigonometrie? Brauchen wir nicht. Das machen doch längst unsere Computer.

Der Grund, warum das noch immer unterrichtet wird, liegt 400 Jahre zurück, weil diese Fähigkeit notwendig war, um die Größe unserer Felder zu messen. Aber heute hat das in der Praxis schlicht keinen Wert. Zum Wandel gehört auch, Dinge hinter sich zu lassen. Und das erfordert Mut, keine Frage.

 

Zur Person


Prof. Dr. Andreas Schleicher, 55, leitet das Direktorat für Bildung der OECD in Paris. Der Statistiker und Bildungsforscher hat den PISA-Test (Program for International Student Assessment) entwickelt, der die drei Bereiche Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften umfasst.

Vor allem die ersten Veröffentlichungen ab dem Jahr 2000 lösten kontroverse Debatten aus, auch in Österreich. Auf die Kritik kontert der gebürtige Hamburger: „Was man nicht misst, kann man nicht verbessern.“ 

 

 

Das Buch

Andreas Schleicher : „Weltklasse: Schule für das 21. Jahrhundert gestalten“
357 Seiten, wbv Media 2019, 34,90 Euro

Das Buch-PDF steht in der OECDiLibrary kostenlos zum Download zur Verfügung.

 

Mehr dazu

„Entscheidungen sind immer auch Chancen“
Von Zentralmatura bis PISA: Das kommt 2019!
Essay: Entscheiden Sie selbst!
Handys im Unterricht: Mit oder ohne?
Interview: „Kampagnen allein reichen nicht aus, um die Lehre zu stärken“

 

Ein Beitrag aus der Was jetzt-Redaktion.

Diesen Artikel teilen: