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„Entscheidungen sind immer auch Chancen“

Warum Ziffernnoten besser als ihr Ruf sind und weshalb sich eine berufliche Ausbildung im Vergleich zu einem akademischen Abschluss lohnen kann – ein Gespräch mit Bildungsforscher Jürgen Seifried.

Das Gespräch führte Stefan Schlögl - 16. Jänner 2019

 

Herr Professor Seifried: Blicken wir kurz zurück. Was war während Ihrer Ausbildung Ihre beste Entscheidung?

Während der Schulzeit musste ich diese berühmten großen Entscheidungen nie treffen, vielleicht auch, weil ich ein in allen Belangen eher durchschnittlicher Schüler war. Ich bin immer irgendwie mitgeschwommen.

Mit der Studienwahl habe ich mir dann etwas schwer getan, aber die Entscheidung für die Wirtschaftspädagogik hat sich im Nachhinein als absolut richtig herausgestellt.

 

Ein Lehrer trifft an einem durchschnittlichen Unterrichtstag angeblich rund 6.000 Entscheidungen. Wie kann man diese Kompetenz in der täglichen Praxis verbessern?

Unterricht ist eine ganz spezielle Veranstaltung. Er ist öffentlich, bei meinen Entscheidungen beobachten mich bis zu 30 Schülerinnen und Schüler.

Vieles läuft gleichzeitig ab, dazu kommt Zeit- und Handlungsdruck. Vorbereitung und fachliche Kompetenz sind hier natürlich wichtig. Dazu kommt ein gutes Ablaufmanagement, also etwa das Gestalten der Übergänge von einer Gruppenarbeit zum Zusammentragen der Ergebnisse.

Bei jüngeren Lehrerinnen und Lehrern hat sich vor allem das Ausarbeiten didaktischer Alternativen bewährt. Also wenn Plan A nicht aufgeht, greife ich zu Plan B oder C. Damit kann ich meinen Entschluss, etwas Neues zu versuchen, nicht nur vor der Klasse, sondern auch mir selbst gegenüber besser begründen.

 

Die Krise als Chance?

Entscheidungen sind immer auch Chancen. Und diese Haltung befreit einen von der Last des eigenen Perfektionismus, macht einen menschlich und sympathisch. Auf einen alternativen Plan umzuschwenken ist allemal besser, als den Schülerinnen und Schülern zu signalisieren, dass sie Schuld haben, wenn die Abläufe nicht funktionieren.

 

„Ziffernnoten ermöglichen gewissermaßen eine Verdichtung von Entscheidungen, die auch Druck wegnimmt.“

 

Was kann in der Aus- und Weiterbildung gemacht werden, um Lehrerinnen und Lehrern ein entsprechendes Rüstzeug mitzugeben?

Wir sollten viel mehr über Zusammenhänge, vor allem zwischen unterschiedlichen Kompetenzbereichen, nachdenken und wie hier didaktische Entscheidungen verknüpft sind.

Die PISA-Ergebnisse zeigen ja, dass Schüler, die in Mathematik schwach sind, eben nicht nur schlechte Rechner sind, sondern vielfach die Textaufgaben nicht erfassen.

Und das hat wiederum mit Lesekompetenz zu tun. Heißt: Die Prüfungsaufgaben sollten so gestaltet sein, dass tatsächlich das Relevante abgefragt wird. Das gezielte Training hin zu mehr didaktischen Alternativen ist – wie bereits erwähnt – ebenfalls ein wichtiges Thema.

 

Das Entscheidungskriterium schlechthin für Schulerfolg ist die Beurteilung mit Ziffernnoten.

Schule hat neben vielen anderen Aufgaben in erster Linie eine Qualifizierungsfunktion. Und dafür ist ein möglichst vergleichbares, transparentes Feedback nötig, um zu erkennen, wo man mit seiner Leistung steht.

Zudem ermöglichen Ziffernnoten, über das Schuljahr hinweg häufig Rückmeldungen zu geben, so haben die Lernenden viel öfter eine Option, eine schlechte Beurteilung auszubügeln. Wenn man so will, ist das eine Verdichtung von Entscheidungschancen, die auch Druck wegnimmt.

Allgemein kommen Schüler nach meiner Wahrnehmung mit Ziffernnoten ganz gut zurecht – aber nur, wenn sie die Beurteilung als fair erleben und Noten nicht etwa zur Sanktionierung eingesetzt werden.

 

Tatsächlich aber wissen wir aus einschlägigen Studien bereits seit Jahren, dass bei der Benotung nicht nur Leistung, sondern auch Faktoren wie das Bildungsniveau der Eltern, der Wohnort, ja sogar der Vorname eine Rolle spielen. Wie lassen sich diese Einflüsse abschwächen?

Menschen und damit Pädagogen können nicht einfach auf Knopfdruck subjektive Einstellungen und Stereotype abschalten. Die genannten Studienergebnisse sensibilisieren aber dafür, dass es diese Einflüsse gibt. Und sie sollten Anlass sein, immer wieder kritisch zu prüfen, ob das eigene Urteil nicht zu stark von externen Faktoren abhängt.

Dabei geht es nicht nur um den berühmten Rechtsanwaltsvater, der mehr oder weniger unverblümt mit Klage droht, wenn der Filius keine Bestnote bekommt. Auch bei der Beurteilung von Schülern aus ökonomisch schwierigen Verhältnissen oder bildungsfernen Schichten sollte man darauf achten, aus vielleicht falsch verstandener Fairness nicht doch etwas zu nachsichtig zu benoten.

 

„Das Ergreifen eines Handwerksberufs wird vielleicht als sozialer Abstieg empfunden – obwohl sich heutzutage gerade in diesem Bereich unzählige Chancen eröffnen.“

 

Eltern nehmen ja immer stärker Einfluss auf schulische Prozesse, was mitunter Konflikte nach sich zieht. Wie lassen sich die vermeiden?

Indem sich beide Seiten darüber im Klaren sind, dass sie die gleichen Interessen haben: nämlich die bestmögliche Förderung des Kindes. Transparenz ist natürlich ebenfalls wichtig.

Darüber hinaus sollten sich Eltern damit anfreunden, dass ihre Kinder vielleicht gar keine akademische Karriere anstreben. Oft gehört diese Elterngeneration ja zu den sogenannten Bildungsaufsteigern, sie kommen aus Familien, in denen sie die Ersten mit einem Universitätsabschluss waren. Eine Leistung, die deren Kinder aber vielleicht gar nicht übertreffen wollen oder können.

Das Ergreifen eines Handwerksberufs wird dann vielleicht als sozialer Abstieg empfunden – obwohl sich heutzutage gerade in diesem Bereich unzählige Chancen eröffnen.

 

Mittlerweile unterstützen ja Apps und andere digitale Helfer die Pädagogen bei der Leistungsbeurteilung. Schüler sehen quasi auf einen Klick, was Sache ist. Wie stehen Sie dazu?

Jedes Instrument, das Schülerinnen und Schülern hilft, metakognitiv tätig zu werden, also über das eigene Lernen nachzudenken, ist meines Erachtens ein Gewinn. Wie weit bin ich mit dem Stoff? Wie sieht das der Lehrer? Das stößt neue Reflexionsprozesse an.

Und die helfen bei der Selbsteinschätzung, zeigen Lernfortschritte oder Lücken auf und machen am Ende auch die Notengebung insgesamt transparenter und nachvollziehbarer.

 

Eine der wichtigsten Entscheidungen am Ende der Schulkarriere ist ja die Berufswahl. Oft hört man, dass die Beratung verbessert werden sollte.

Grundsätzlich sollte zwischen Berufsorientierung und Berufsberatung unterschieden werden. Letztere kann nicht jeder Lehrer einfach so leisten. Schließlich bedarf es umfassender Kenntnisse über den Schüler, die über das Fach hinausgehen, aber auch eines tiefgreifenden Wissens über den Arbeitsmarkt.

Berufsorientierung hingegen ist ein langfristiger Prozess, da geht es um individuelle Lebensplanung. Und hier wäre tatsächlich mehr möglich, wenn alle Akteure enger zusammenarbeiten würden. Zudem sind Pädagoginnen und Pädagogen manchmal ihrer eigenen, meist geradlinigen Ausbildungsbiographie verhaftet.

Die Devise müsste also lauten: rein in die Wirtschaftspraxis, noch intensiver mit Unternehmen zusammenarbeiten, selber einmal Firmen in der Umgebung besuchen, sich auch als Fachfremder Vorträgen aus Wirtschaft und Arbeitsmarkt aussetzen. Von diesem Know-how profitiert man selbst und kann bei den Schülerinnen und Schülern entsprechende Impulse setzen.

 

„Das Ansehen der beruflichen Ausbildung, speziell der Lehre, müsste wieder verbessert werden.“

 

Zum Schluss noch zu Direktiven an höchster Stelle: Der Fachkräftemangel ist in Österreich ein großes Thema. Welche Entscheidungen müsste die Politik setzen, um diese Herausforderung zu lösen?

Das Ansehen der beruflichen Ausbildung, speziell der Lehre, müsste wieder verbessert werden. Dazu gehört auch, dass der gewerbliche Mittelstand und Vertreter aus Handwerksberufen stärker in den politischen Entscheidungsgremien, vor allem den Parlamenten, vertreten sein sollten. Die unmittelbar Betroffenen sind einfach näher an den Problemlagen am Arbeitsmarkt dran.

Darüber hinaus müsste stärker in den Mittelpunkt gerückt werden, dass sich berufliche Aus- und Weiterbildung tatsächlich lohnt: nicht nur finanziell und von den internationalen Chancen her, sondern auch in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung und die gesamte Lebensplanung.

Die Botschaft lautet: Ein Hochschulstudium ist natürlich toll, aber die Entscheidung für eine hochwertige berufliche Ausbildung kann genauso erfüllend sein.

 

Zur Person

Professor Dr. Jürgen Seifried, Jahrgang 1967, leitet den Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik – Berufliches Lehren und Lernen an der Universität Mannheim.

Seine zentralen Forschungsschwerpunkte sind u. a. Lehrerbildung, Kompetenzentwicklung von Lehr- und Ausbildungspersonen sowie Potenziale des Lernens aus Fehlern. Seifried lehrte bislang zweimal als Gastprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien.

 

 

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Ein Beitrag aus dem Was jetzt-Magazin, Ausgabe 2/18

 

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