Schwerpunkt: Medienkompetenz
Computerspiele: So lernen Lehrende die aktuellsten Games verstehen
Computerspiele haben sich als neues Leitmedium der Jugend etabliert. Markus Meschik von der Fachstelle Enter erklärt, welche Games alle Lehrenden kennen sollten und welche Chancen und Risiken sie für junge Menschen bringen.
Florian Wörgötter - 26. Juni 2020
In Zeiten des Online-Lernens empfahl sogar die WHO, dass Jugendliche Online-Games spielen sollten, um mit anderen in Kontakt zu bleiben. Familien und Lehrkräften fällt es aber nicht immer leicht, Computerspiele im Leben von Burschen und Mädchen zu akzeptieren.
Die Fachstelle Enter in Graz steht ihnen mit medienpädagogischem Rat zur Seite. Im Interview erklärt Sozialpädagoge und Leiter Markus Meschik, wie sich Lehrende dem Thema Gaming auf Augenhöhe nähern sollen, welche Gefahren von Glücksspielelementen ausgehen und warum sich nur die wenigsten Lernspiele für den Unterricht eignen.
Was jetzt: Wie haben sich Games in den letzten zehn Jahren entwickelt?
Markus Meschik: Zu meiner Schulzeit vor 15 Jahren waren Gamer/innen noch in der Außenseiterrolle. Seit dem Computerspiel Fortnite hat sich Gaming zum Massenphänomen etabliert. Heute wird man in der Schule sogar benachteiligt, wenn man kein Spiel spielen darf. Wenn Eltern das Spielen daheim verbieten, tun sich vor allem junge Burschen schwer, am Klassengefüge und an den Diskussionen teilzunehmen.
Wie konnten sich Computerspiele zum Massenphänomen entwickeln?
Zum einen haben Unternehmen erkannt, dass Games nicht mehr nur ein Nischenprodukt für ein paar Pizza essende, übergewichtige Jugendliche ist. Sondern, dass ein großer Markt dahinter steckt, weshalb große Summen in die Bewerbung geflossen sind. Auch die Grafiktechnologie hat sich massiv verbessert, wobei sich spielerisch wenig verändert hat. Erste Bestrebungen versuchen auch, die Spielfaszination in didaktischen Settings zu verorten oder in Therapien einzusetzen.
Sind Computerspiele das neue Leitmedium der Jugend geworden?
Jugendliche und Kinder erkennen sie selbstverständlich als Leitmedium; Erwachsene jenseits der 30 sind irritiert, wie professionalisiert etwa der eSport-Sektor bereits ist und welche Berufsmöglichkeiten dahinterstecken. In der Beratung höre ich immer wieder, dass immer mehr Jugendliche einen Beruf als Twitch-Streamer/in, YouTuber/in oder eSportler/in anstreben. Die Schule sei für sie daher zweitrangig.
„Immer mehr Jugendliche wollen Twitch-Streamer/in, YouTuber/in oder eSportler/in werden. Die Schule ist für sie zweitrangig.“
Was antwortet man Schülern und Schülerinnen, wenn sie sagen, sie brauchen die Schule nicht, weil sie ihr Geld mit Computerspielen verdienen können?
Es ist schwierig, authentisch zu sagen: Schlag es dir aus dem Kopf, das wird nix. Denn es gibt tatsächlich Kinder, die ein paar hundert Euro im Monat mit dem Computerspielen verdienen. Außerdem wissen wir nicht, welche Berufe in zehn Jahren relevant sein werden. Wer hätte vor einem Jahrzehnt gedacht, dass unsere Kinder einmal Geld mit Social-Media-Management verdienen werden. Doch derzeit ist die Chance, professionelle/r eSportler/in zu werden, gleich hoch, wie Profifußballer/in zu werden.
Womit genau verdienen eSportler/innen ihr Geld?
Die meisten von ihnen bespielen regelmäßig einen YouTube-Kanal oder einen Twitch-Live-Stream. Dafür verdienen sie Werbeeinnahmen über YouTube. Der Großteil des Geldes kommt von Sponsoren wie Samsung oder A1, die Teams oder einzelne Profis sponsern. Die Donations ihrer Fans sind quasi das Trinkgeld. Auch Wettkämpfe bringen Geld.
Was müssen Lehrende über die angesagte Streaming-Plattform Twitch wissen?
Twitch ist eine Live-Streaming-Plattform, die von Amazon gekauft wurde. Sie eignet sich großartig dazu, das Computerspielen live zu streamen und als Video aufzubereiten. Man braucht nur eine Anmeldung, eine Kamera und ein Mikrofon. Die Zuseher/innen können in Echtzeit kommentieren. Wenn man geschicktes Marketing betreibt, kann man ein großes Publikum erreichen und damit Geld verdienen.
Wäre es sinnvoll, einen Twitch-Kanal für den Unterricht zu erstellen?
In einem medienpädagogischen Schwerpunkt ergibt es absolut Sinn, sich darauf einzulassen, was die Kids dort machen. Nebenbei kann man über Privatsphäre oder Probleme sprechen. Ich empfehle einen Blick auf den Twitch-Kanal von Thomas Kunze vom Games Institut Austria. Hier wurde während des Homeschoolings Live-Unterricht gemacht.
Welche Unterschiede gibt es im Spielverhalten zwischen Mädchen und Burschen?
Es gibt große Unterschiede. Studien zufolge spielen Frauen und Männer gleich viel Computerspiele. Wenn man in der Klasse nachfragt, wer Computerspiele spielt, zeigen fast alle Burschen auf und maximal ein Drittel der Mädels. Für manche ist aber ein Facebook-Game kein Computerspiel. Letzendlich spielen in jeder Klasse fast alle irgendeine Form von Games. Mädels spielen lieber mobile Casual Games wie Candy Crush Saga oder Coin Master.
Welche Spiel-Phänomene sind bei den Jugendlichen aktuell am beliebtesten?
Sehr viele Jugendliche spielen Mobile-Games, also Spiele am Smartphone. Allen voran sind das Clash of Clans, Clash Royal und Brawl Stars – alle drei von derselben Firma übrigens. Was diese Spiele auszeichnet: Sie sind kostenlos spielbar, im Game kann aber gegen Bezahlung sein Können gesteigert werden. Diese Mechaniken orientieren sich sehr stark an der Glücksspiel-Industrie und sind sehr kritisch zu betrachten.
„11-Jährige geben 600 Euro für ihre Figur in Fortnite aus. Sie schämen sich aber nicht, sondern werten das als Statussymbol.“
Die Kinder geben echtes Geld in virtuellen Spiele aus?
Ja. Wenn ich in Workshops in Schulen die Klasse frage, wer am meisten Geld im Koop-Survival-Spiel Fortnite ausgegeben hat – dann gibt es immer ein, zwei 11-Jährige, die schon 600 Euro investiert haben. Die Kinder schämen sich aber nicht, sondern werten das als Statussymbol, wenn man mit so viel Geld seine Figur in Fortnite mit einem neuen Kostüm (= „Skin“) ausstatten kann.
Welche Strategien empfehlen Sie Lehrenden in solchen Fällen?
Als Lehrer/in sollte man zumindest wissen, wovon die Kinder reden, wenn sie 20 Euro für ein Fortnite-Skin ausgeben. Denn das ist ein präsenter Teil der Jugendkultur.
Das Schwert ist für Lehrende aber zweischneidig: Wenn man sich mit jugendnahen Themen wie dem Gaming auseinandersetzt, sollten sie bereit sein, die Expertise der Jugendlichen zu akzeptieren. Die klassische Hierarchie zwischen Lehrenden und Lernenden kehrt sich um. Denn die Schüler/innen kennen sich in dem Fall mit dem „Stoff“ besser aus als die Lehrenden. Man sollte die Größe haben, zu sagen: Ihr seid die Experten und Expertinnen, erklärt mir euer Lieblingsspiel. Das würde sich super im Deutschunterricht anbieten.
Das Mobile Game „Coin Master“ wurde stark kritisiert, dass es von Glücksspiel-Machern finanziert wird und Kinder ans Casino heranführen würde. Wie durchblickt man als Lehrer/in solche Machenschaften?
Diese Normalisierungstendenzen sind auch belegt. Die Hemmschwellen zum Glücksspiel wird abgebaut. Coin Master ist aber ein offensichtliches Beispiel, wenn es um Glücksspielmechaniken geht. Andere Games, die von Millionen Kindern gespielt werden, bedienen diese Mechaniken weitaus subtiler.
Im Internet finden sich Methodensammlungen für den Unterricht: Auf der österreichischen Open-Source-Plattform Game Based Learning Toolkit finden Lehrende methodische Inputs und können sich mit anderen austauschen. Im deutschprachigen Raum ist die Medienkompetenz-Plattform Digitale Spielewelten sehr empfehlenswert.
„Medienkompetenz bedeutet nicht, Kinder weniger spielen zu lassen. Sondern ihnen die Bandbreite des Medium Games zu erklären.“
Am wichtigsten ist es aber, seine eigene Haltung als Lehrer/in zu hinterfragen. Viele Kollegen und Kolleginnen scheitern in der Praxis, weil sie von vornherein eine abwehrende Haltung einnehmen.
Wie sollen Lehrer/innen denn mit digitalen Spielen im Unterricht umgehen?
Mir ist wichtig, dass Lehrende erkennen, dass sich Medienkompetenz nicht nur in der Begrenzung von Computerspiel-Zeit erschöpft. Es muss darum gehen, den Kindern zu zeigen, welche Bandbreite das Medium Games zu bieten hat.
Wenn sie über Zeitungen reden, werden sie auch den Unterschied zwischen Boulevardjournalismus und Qualitätsjournalismus erklären. Dasselbe gilt für Videospiele: Neben den Publikumslieblingen Fortnite, Fifa und Brawlstars gibt es auch eine Menge an empfehlenswerten Indie-Spielen, die sensible Thematiken aufgreifen, die sich auch für den Unterricht eignen.
Was wäre ein empfehlenswertes Computerspiel für den Unterricht?
Das Antikriegsspiel „This War of Mine“ wurde soeben in den polnischen Lehrplan aufgenommen. Es simuliert die hoffnungslose Kriegserfahrung, ohne rassistische oder diskriminierende Darstellung. Diese Inhalte werden differenziert dargestellt und bieten eine Grundlage für eine kritische Diskussion. Das Wichtigste: Dieses Spiel wurde nicht als Lernspiel entwickelt.
Was spricht gegen Lernspiele?
Sämtliche Versuche, Lernspiele zu konstruieren, scheitern daran, dass man als Spieler/in sofort merkt: Es geht nicht mehr um meinen Spielspaß, sondern darum, dass ich was lernen soll. Viele dieser „Serious Games“ nennt man den sogenannten „Chocolate Covered Brokkoli“ – ein mit Schokolade versüßter Lerninhalt, der aber meist komisch schmeckt.
„Am sinnvollsten für den Unterricht ist es, didaktische Übungen für ein Spiel zu gestalten, dass die Kinder ohnehin spielen.“
Sinnvoller ist es für uns, ein Spiel zu spielen, dass die Kinder ohnehin gerne spielen, und darauf aufbauend didaktische Übungen zu gestalten.
In einer kurzen Einführung zum Thema Gaming: Auf welche Risiken sollten Lehrende hinweisen?
Erstens: Dass manche digitalen Spiele mit Glücksspiel-Elementen die Kinder zum Geld ausgeben motivieren. Besonders brisant: Gerade Kinder mit weniger starkem finanziellem Background geben hunderte oder tausend Euro in diesen Spielen aus.
Zweitens: In vielen Online-Spielen ist der Umgangston geprägt von Rassismus oder Frauenfeindlichkeit. Darüber im Unterricht zu sprechen, kann sehr fruchtbar sein. Wir haben in einem Workshop Beispiele von Hatespeech in digitalen Spielen festgehalten und in Gruppen diskutiert. Das zeigt, dass die Grenzen zwischen spaßigem Sticheln, das zum Spiel gehört, und Beleidigungen verschwimmen. Beim Umgang mit Games kann auch für den Umgang mit Menschen sensibilisiert werden.
Welche positiven Seiten von Games sollen Lehrer/innen kennen?
Games sind ein jugendkultureller Raum, in dem sich Jugendliche ausprobieren, auch über die Stränge schlagen, aber auch schöne Erfahrungen machen. Das muss man anerkennen.
Die Jugendlichen lernen in Spielen vieles – Inhaltliches zum Spiel, räumliches Denken und sich im Team abzusprechen und zu koordinieren. In Wahrheit aber müsste es reichen, wenn die Kids sagen: Die Spiele machen Freude und schweißen uns mit Freunden zusammen.
Unser Zugang ist, dass es keine Zeitverschwendung gibt. Denn für jedes Kind erfüllt ein Spielerlebnis ein gewisses Bedürfnis. Wichtig wäre, herauszufinden, welches Bedürfnis das ist.
In Zeiten des Social Distancings sind Online-Multiplayer auch soziale Fixpunkte, an denen Jugendliche mit anderen innerhalb eines Games interagieren.
Die WHO hat in einer Kampagne sogar empfohlen, dass Kinder und Jugendliche Videospiele nutzen sollen, um während des Home Schoolings in Kontakt zu bleiben. Noch vor einem Jahr hat die WHO die Videospielsucht als Diagnose erklärt. Das Bild hat sich offenbar ausdifferenziert.
Ein Junge hat mir einmal erzählt, dass er seinen gesamten Freundeskreis in Computerspielen kennengelernt hat. Wenn man das hört, ist man natürlich zuerst einmal skeptisch. Dann meinte er, dass er tagtäglich mit seinen besten Freunden telefoniert, sie auch schon getroffen hat, obwohl sie in Deutschland leben. Man muss die verbindenden Strukturen eines Computerspiels anerkennen und welche lebenswichtige Relevanz sie für junge Menschen haben können.
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