Bildung und Beruf

„Bildung ist keine Medizin, die gegen Fehlleistungen immunisiert“

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann plädiert im Gespräch mit Was jetzt für größere Freiräume für Lehrerinnen und Lehrer, eine Rückbesinnung zur Idee der Allgemeinbildung – und für digitale Askese an den Schulen.

Das Gespräch führte Florian Bayer - 30. Oktober 2019

 

Professor Liessmann, was bedeutet Allgemeinbildung heute überhaupt noch? 

Allgemeinbildung im Sinne der klassischen Therorie meint sowohl,  die Welt zu verstehen und aktiv an ihr teilhaben zu können, als auch sich selbst besser zu verstehen, um eine mündige Person zu werden.

Beides, Weltzugewandtheit und Persönlichkeitsbildung, kann sich nur dann entfalten, wenn man sich mit der Beschaffenheit der Welt auseinandersetzt.

Eine weitere Überlegung besagt, dass der Mensch als Kulturwesen gar nicht anders kann, als sich mit dem auseinanderzusetzen, was seine Vorfahren und Zeitgenossen hervorgebracht haben. Die Idee des Fortschritts besteht ja darin, dass wir auf dem aufbauen, was Menschen vor uns bereitgestellt haben.

Bildung ist also zwingend vergangenheitsorientiert, auch wenn manche, die stets danach fragen, welche Bildung wir in der Zukunft brauchen, das nicht verstehen wollen.

 

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Bildung und Pädagogik. Foto: Zsolnay Verlag/Heribert Corn

 

Braucht heute jeder umfassende Allgemeinbildung, also auch Schülerinnen und Schüler an hochspezialisierten Schulen?

Natürlich ist das Schulangebot in der Sekundarstufe breit aufgefächert, allen Schulen ist aber doch die Grundüberzeugung gemein, dass es ohne die Beherrschung bestimmter Kulturtechniken nicht geht: vom Lesen, Schreiben und Rechnen über das Erlernen von Fremdsprachen bis hin zum Umgang mit digitalen Medien. Jeder Schüler, jede Schülerin sollte das lernen.

 

Anders als früher ist heute das gesamte Wissen der Menschheit nur zwei Klicks entfernt.

Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen diese Klicks auch vollziehen. Auch früher standen Bibliotheken und damit enormes Wissen jedem offen, wurden aber nur von wenigen besucht.

 

„Wissen ist so leicht verfügbar wie nie zuvor, gleichzeitig gibt es mehr Verschwörungstheorien denn je.“

 

Dieses Paradoxon fordert auch Schulen: Wissen ist so leicht verfügbar wie nie zuvor, gleichzeitig gibt es mehr Verschwörungstheorien denn je. Schulen müssen zeigen, wie Wissenschaft arbeitet, was verlässliche Quellen sind, wie man etwas recherchiert und sich informiert.

Diese Aufgaben sind nicht neu, werden aber durch die Digitalisierung wichtiger. Wer einen guten Physikunterricht genossen hat, wird auf unsinnige Verschwörungstheorien von Flat-Earth bis zur Leugnung der Mondlandung eher nicht hereinfallen.

 

Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer solchen Theorien und Fake News begegnen?

Man kann durch Überbetonung Fake News ein Gewicht geben, das sie gar nicht haben. Es wäre kein schlechtes Unterrichtsprinzip, wenn Lehrpersonen zeigen, dass man bestimmte Dinge am besten ignoriert.

Idealerweise gibt Schule jungen Menschen die nötige Allgemeinbildung mit, sodass sie sich selbständig in der analogen wie auch in der digitalen Welt zurechtfinden.

 

Kann Allgemeinbildung denn wirklich verhindern, dass man auf digitale Irrwege kommt?

Bildung ist kein Medikament, das gegen Fehlentwicklungen immunisiert. Weder gegen Lügenpropaganda, noch gegen bestimmte politische Entwicklungen.

Aufgabe der Schule ist ja nicht, dass plötzlich alle die „richtige“ Partei wählen, sondern vielmehr, dass sie wissen, wie ein Parteiensystem funktioniert und was politische Partizipation bedeutet.

 

„Schüler sollen wissen, dass es in der Wissenschaft keine Dogmen gibt.“

 

Schülerinnen und Schüler sollen aber wissen, dass es in der Wissenschaft keine Dogmen gibt, sondern lediglich mehr oder weniger gut bestätigte Hypothesen und Theorien. Dies zu verinnerlichen schützt davor, etwas blind zu glauben.

 

Schule befindet sich ja immer im Zwiespalt, bestimmte Inhalte vermitteln zu müssen, andererseits zum eigenen Denken anregen zu wollen. 

Das ist für mich kein großer Widerspruch. Man kann nur jenes Wissen weitergeben, das es schon gibt, so wie man auch nur bereits gekochte Speisen servieren kann.

Ob es dann aber schmeckt, wie viel jemand davon isst, ob sich jemand davon anregen lässt und beim nächsten Mal etwas variiert? Darauf kommt es an, denn das wäre die eigentliche Weiterentwicklung.

 

Sie plädieren ja auch dafür, dass man Schüler fordern muss und dass man es ihnen nicht zu leicht machen soll.

Davon bin ich zutiefst überzeugt. Wir haben ein falsches Lehrerbild: Lehrer als Coaches, als Animateure. Das sind sie aber nicht.

Ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin ist ein Vorbild und zeigt, was es bedeutet, sich in einer Disziplin oder einem Fach auszukennen, welche Möglichkeiten und welche Lust sich daraus ergeben können.

 

„Diese Diskrepanz zwischen Müssen und Wollen wird man nie auflösen können.“

 

„Jemanden abholen, wo er gerade ist“, diese moderne pädagogische Floskel, ist ja völlig uninteressant. Wirklich interessant ist es zu sehen, wo jemand anders steht und die Motivation anzufachen, auch dorthin zu kommen.

 

Kinder müssen in die Schule gehen, da bleibt die Lust am Lernen oft auf der Strecke. 

Diese Diskrepanz zwischen Müssen und Wollen wird man nie auflösen können. Es ist grauenhaft, etwas nur deshalb zu machen, weil es eben vorgesehen ist. Ich verstehe, dass man als junger Mensch dagegen aus guten Gründen rebelliert.

Es ist andererseits aber fernab jeder Realität, zu glauben, dass Menschen sich nur intrinsisch motivieren lassen. Äußere Reize und Anreize spielen natürlich eine riesige Rolle. Anerkennung ist wahnsinnig wichtig für uns, ein großer Motor im Leben.

So wissen wir ja alle, dass sich das Arbeitsverhalten von Menschen sofort ändert, wenn man ihnen mehr bezahlt.

 

Wie kann man diese Lust entfachen?

Bildung bedeutet immer auch, Menschen mit Dingen zu konfrontieren, die im unmittelbaren Lebenshorizont gerade nicht auftauchen – sonst müsste ja niemand in die Schule gehen.

 

„Es ist ein Irrtum zu glauben, man müsse ständig im digitalen Raum unterwegs sein.“

 

Natürlich kann ich Schülerinnen und Schüler für etwas begeistern, von dem keiner gedacht hätte, dass es einen 14- oder 15-Jährigen je interessieren wird. Genauso kann ein schlechter Lehrer jedes Interesse im Keim ersticken: Wir alle haben in unserer Schulzeit beide Erfahrungen gemacht.

 

Welche neuen Aufgaben kommt Schulen in der Zeit der Digitalisierung zu?

Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne sich nur dann in der modernen Welt gut bewegen, wenn man ständig im digitalen Raum unterwegs ist. Digitale Medien können helfen und manches besser veranschaulichen, sind aber keinesfalls unbedingt notwendig, um etwas zu erklären.

Schulen bekommen zunehmend die Aufgabe, all das das zu vermitteln, was in der Lebenswelt eines Kindes nicht mehr auftaucht, in der realen Welt aber wichtig ist. Die Verwechslung unserer Filterblasen mit der Wirklichkeit ist einer der verhängnisvollsten Irrtümer unserer Zeit.

 

Fällt uns Konzentration heute, in Zeiten der „digitalen Gereiztheit“, schwerer als früher?

Ich sehe das ambivalent. Es stimmt natürlich, dass ein vielfältiges Reizangebot es schwieriger macht, sich auf etwas zu konzentrieren. Vor 100 Jahren konnte man als Schülerin, als Schüler ein Buch lesen oder aus dem Fenster schauen, aber nicht viel mehr. Heute gibt es unendlich viele Möglichkeiten.

 

„Schulen hätten durchaus das Recht, so etwas wie digitale Askese einzuführen.“

 

Gleichzeitig gibt es aber auch die Sehnsucht, sich ganz auf etwas voll und ganz einzulassen. Ich glaube nicht, dass junge Menschen sich nur noch wenige Minuten auf etwas konzentrieren können. In anderen Zusammenhängen tun sie das ja, sei es beim Computerspielen oder Musikhören.

 

Wie kann man dieses Eintauchen in ein Thema in der Schule ermöglichen?

Das hängt wiederum stark vom Lehrer ab. Der Enthusiasmus für Erkenntnis, Neugier und Wissenschaftsvermittlung muss spürbar sein, genauso wie das Interesse am eigenen Fach. Dann wird er oder sie es auch weitergeben können.

Was die Konzentration betrifft: Schulen hätten durchaus das Recht, so etwas wie digitale Askese einzufordern, hin und wieder zumindest. Zu zeigen, wie es sich ohne die Gefahr der digitalen Ablenkung lebt. Das französische Handyverbot in der Schule finde ich großartig.

 

Braucht es wirklich solch radikalen Verbote?

Wir alle wissen, dass man für Denk- und Lernprozesse manchmal mit sanftem Druck gezwungen werden muss. Natürlich ist das widersprüchlich: Auf der einen Seite sind wir neugierig, auf der anderen Seite faul.

Es ist deshalb gut, wenn bestimmte Strukturen wie die Schule unserer natürlichen Trägheit und den Verlockungen der Ablenkung Einhalt gebieten.

 

„Ich würde einen Reformstopp verhängen. Ich halte nichts davon, wenn alle zwei Jahre etwas Neues kommt.“

 

Große Prüfungstermine oder Schularbeiten haben ja auch genau diesen Sinn: dass man sich intensiv darauf vorbereitet. Dass man andere Dinge, die ebenfalls wichtig und viel schöner sind in einem jungen Leben, hintanstellt.

Das ist eine Erfahrung, die muss man machen. Denn es gibt kein Lernen, ohne sich selbst disziplinieren zu können, das heißt, sich auf etwas zu konzentrieren und andere Dinge auszublenden. Diese Fähigkeit ist immanent wichtig im Leben, sei es später auf der Universität oder im Berufsleben.

 

Wären Sie Bildungsminister, was würden Sie im Schulsystem ändern?

Ich würde einen Reformstopp verhängen, denn ich halte nichts davon, wenn alle zwei Jahre etwas Neues kommt und sich keiner mehr auskennt. Schulen brauchen Stabilität und Kontinuität. Das bedeutet nicht, dass man versteinerte Verhältnisse fortschreiben muss.

Auch würde ich die Kompetenzorientierung in hohem Maße zurücknehmen und in den Lehrplänen auf ein ausgewogenes Verhältnis zur Wissensorientierung achten.

 

„Man sollte Lehrkräfte als die Bildungsexperten behandeln, die sie sind.“

 

Ich würde Lehrpersonen wieder viel mehr Freiheit geben, das Vertrauen in sie stärken. Man muss sie als die Bildungsexperten behandeln, die sie sind. Die wissen, was man unterrichtet und wie man das tut.

Und ich würde die Zentralmatura teils zurücknehmen und in einen zentralen und einen dezentralen Teil aufteilen. Ein besonders begabter Schüler soll ruhig anspruchsvollere Fragen bekommen, als es die Zentralmatura, die sich ja immer am Durchschnitt orientieren muss, erlaubt.

 

Zur Person 

Konrad Paul Liessmann studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Wien und habilitierte sich 1989 zum Professor für Philosophie. Bis 2008 war er Studienprogrammleiter für Philosophie und Bildungswissenschaft an der Uni Wien, danach Vizedekan der gleichnamigen Fakultät.

Liessmann ist Vizepräsident der Gesellschaft für Bildung und Wissen, publiziert regelmäßig in Fach- wie in Publikumsmedien und meldet sich in aktuellen Diskursen zu Wort. Sein jüngster Buchtitel zur Bildungsdebatte lautet

Bildung als Provokation
240 S., Zsolnay Verlag, 22,70 Euro.

 

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Ein Beitrag aus der Was jetzt-Redaktion.

 


 

 

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