Bildung und Beruf

„Vertrauen im Bildungssystem ist nicht besonders ausgeprägt“

Michael Schratz, Erziehungswissenschaftler an der Universität Innsbruck, ist Experte für die Entwicklung von Schule und Unterricht. Im Interview mit Was jetzt plädiert er für mehr Autonomie, schlauere Lösungen – und für die Gesamtschule.

Das Gespräch führte Florian Bayer - 9. Oktober 2019

 

Was sehen Sie als größte Herausforderung im heimischen Bildungssystem?

Es braucht Kohärenz im Gesamtsystem. Das ist nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt Thema.

In Österreich gibt es viele Einzelinitiativen, aber wenig systemisches Denken. Von Policy Papers im Bildungsministerium bis zum Klassenzimmer ist es ein sehr langer Weg, es gibt zu viele Ebenen dazwischen.

In Finnland etwa kommen zwar vom Ministerium die Lehrpläne, die Verantwortung liegt aber vor Ort bei den Schulen und Kommunen. Eine zentrale Stelle kann niemals Lösungen für jede einzelne Schule bieten, deshalb ist Autonomisierung sehr wichtig.

 

Michael Schratz ist Erziehungswissenschaftler, Schulpädagoge und Professor an der Universität Innsbruck. Foto: Schratz/fotowerk

 

Sehen Sie hierzulande Verbesserungen in diesem Bereich?

Ich war Mitautor eines Bildungsberichts zur Schulautonomie vor zehn Jahren. Schon damals und auch in der Zwischenzeit hat sich gezeigt, dass die von Expertinnen und Experten erarbeiteten Forderungen nur zögerlich umgesetzt wurden.

 

In welchen Bereichen funktioniert es besser?

Im pädagogischen Bereich, etwa bei der Adaptierung von Lehrplänen, besteht mittlerweile eine gewisse Autonomie der Schulen. Personelle und budgetäre Autonomie gibt es aber noch kaum.

In der Steiermark gibt es erste zaghafte Versuche, dass Schuldirektionen selbst über ihr Lehrpersonal entscheiden können. Es braucht mutigere Schritte.

 

„Das Vertrauen ins Bildungssystem ist in Österreich nicht besonders ausgeprägt.“

 

Woran liegt es, dass diese Reformen so lang dauern?

Das Vertrauen ins Bildungssystem ist in Österreich nicht besonders ausgeprägt. Es gibt die Sorge, dass bei Reformen bestimmte Schulen leer ausgehen oder übervorteilt werden, insbesondere im regionalen Bereich, wo es häufig Personalengpässe gibt und Schulen daher Lehrer zugeteilt bekommen.

 

Was kann man gegen den Lehrermangel auf dem Land tun?

Gemeinden müssen Lehrerinnen und Lehrern etwas anbieten, wenn sie sie für sich gewinnen wollen. In Vorarlberg etwa gab es früher große Probleme, die wurden aber gelöst, indem man etwa vergünstigte Wohnungen zur Verfügung gestellt hatte. Kluge Lösungen braucht es auch andernorts.

 

Es ist völlig klar, dass eine Selektion der Kinder mit zehn Jahren zu früh ist.

 

Wie stehen Sie zur Gesamtschule?

Es ist völlig klar, dass eine Selektion der Kinder mit zehn Jahren zu früh ist. Momentan fließt viel Energie in die Arbeit des Selektierens, sowohl an den Schulen als auch bei den Schülerinnen und Schülern.

Neben Österreich selektieren nur Deutschland und die Tschechische Republik so früh. In Finnland etwa gehen Kinder acht Jahre in eine gemeinsame Schule, auch in der Schweiz sind es sechs.

 

Was sind die Hürden für eine Einführung?

An allen Schulen bestehen sehr heterogene Voraussetzungen, nicht nur in Österreich: Es ist ein Unterschied, ob eine Schule in einem bildungsfernen oder bildungsaffinen Einzugsgebiet liegt.

Die Herausforderungen heute sind andere als noch vor 20, 30 Jahren, etwa dass in manchen Klassen nur noch ein Deutsch-Muttersprachler sitzt. Das kann nicht gut gehen, das Problem muss gesamtsystemisch gelöst werden. Es sollte nicht auf einzelne Schulen abgewälzt werden.

 

Wir sprechen immer von Risikoschülern, nicht aber von Risikoschulen.

 

Wie begegnet man diesen Herausforderungen?

Wir sprechen immer von „Risikoschülern“, nicht aber von „Risikoschulen“. Diese Schulen benötigen Unterstützung, was besondere Ressourcen erfordert.

Darüber hinaus ist mehr Monitoring innerhalb der Schulen erforderlich, um die spezifischen Schwierigkeiten der einzelnen Kinder herauszufinden.

Wie kann man die, die es brauchen, gezielt unterstützen? Und wie können besonders Begabte unterstützt werden? Für diese Fragen braucht es systemische Antworten. Das kann nicht von einzelnen Lehrpersonen allein geleistet werden.

 

Braucht es ein eigenes Fach, in dem „Digitalisierung“ in allen Facetten behandelt wird? 

Nein. Viel wichtiger wäre es, dass diese Themen fächerübergreifend behandelt werden.

Genauso verhält es sich übrigens bei einem angehängten Fach „Politische Bildung“: Besser wäre, wenn politische Zusammenhänge fächerübergreifend behandelt würden. Aber auch dafür bedarf es eines Gesamtkonzepts, denn aktuell fühlen sich vor allem die Geschichtelehrerinnen und -lehrer zuständig.

 

Wie kann im Unterricht der digitale Umbruch angemessen thematisiert werden? 

Digitalisierung ist natürlich eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft, aber auch in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Vielerorts gibt es gelungene Einzelinitiativen, aber nur wenige Schulen haben ein gelungenes Gesamtkonzept.

 

„Handyverbote sind jedenfalls nicht die Lösung.

 

Aus der Forschung wissen wir längst, dass es zu wenig ist, nur die technische Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Es braucht auch schlüssige pädagogische Konzepte, und die gibt es noch kaum.

Handyverbote sind jedenfalls nicht die Lösung, vielmehr bedarf es Ideen, wie man das Smartphone sinnvoll in den Unterricht integrieren kann.

Dafür sind aber entsprechende Fortbildungsangebote nötig. Durch den Generationenwechsel wird es insgesamt besser, denn mittlerweile unterrichten immer mehr Digital Natives – allerdings nicht systemisch.

 

Die Bundesschulsprecherin Jennifer Uzodike forderte kürzlich, es brauche eine bessere Feedbackkultur in der Schule. 

Das sehe ich auch so. Schülerinnen und Schüler wissen viel zu oft nicht, wo sie gerade stehen. Ziffernnoten geben ein Normensystem wieder, sagen aber nicht, wo man sich verbessern kann. Es war ein Fehler der alten Regierung, sie wieder einzuführen. Alle wissenschaftliche Evidenz spricht dagegen.

 

„Es war ein Fehler der Regierung, Ziffernnoten wieder einzuführen.

 

Gute Erfahrungen wurden hingegen mit den Standardtestungen gemacht, die mittlerweile flächendeckend durchgeführt werden und ein gutes Bild über die Leistungen im Gesamtsystem ergeben.

Dabei geht es nicht um das Abprüfen auswendig gelernten Wissens, sondern um Kompetenzen in der Anwendung. Leider wird dieses Rückmeldesystem offenbar durch stärkere Kontrolle ersetzt.

 

Sollte die neue Regierung Schulbildung und Universitäten wieder auf zwei Ministerien aufteilen?

Bis jetzt war eine solche Trennung immer problematisch. Pädagogische Hochschulen waren im Bildungsministerium angesiedelt, für die universitäre Lehrerausbildung war aber das Wissenschaftsministerium zuständig – und das, obwohl die Curricula vereinheitlicht wurden.

Wichtig ist jedenfalls eine enge Vernetzung von Bildung – von der Schule bis zu den Unis – und der Forschung.

Mit unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund und Ländern gibt es ohnehin schon Schwierigkeiten, kohärente Konzepte herzustellen. Ein gemeinsames Ministerium wäre jedenfalls hilfreich.

 

Und welche Reformen bräuchte es speziell im Bereich der BMHS?

Die modulare Oberstufe funktioniert vielerorts ausgezeichnet, auch sind die heimischen Lehrlinge und BMHS-Schülerinnen und -Schüler höchst erfolgreich, wie man gerade wieder bei den globalen Berufs-Weltmeisterschaften gesehen hat.

Ein Problem bleibt noch, dass man BMHS oft als weniger wertvoll als allgemeinbildende Schulen ansieht.

Man muss die Stärken dieses Schultyps noch mehr betonen und den Wert der Berufsbildung anerkennen: in der ganzen Gesellschaft, aber auch in ihrer Rolle innerhalb des Bildungssystems.

 

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Ein Beitrag aus der Was jetzt-Redaktion.

 

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