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Entscheiden Sie selbst!

Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft, in der mit der Größe der Auswahl auch die Angst vor falschen Entscheidungen wächst. Dabei wäre die Lösung für so manchen Zielkonflikt erstaunlich einfach.

Ein Essay von Stefan Schlögl - 19. Dezember 2018

 

Bei Ihnen steht eine mutige, möglichst rationale Entscheidung an? Dann setzen Sie sich einen Radhelm auf und dimmen das Licht herunter. Schon ist er da, der optimale Entschluss – zumindest wenn man kurzerhand zwei Studien zum Thema Entscheidungsfindung zusammenführt.

Die eine stammt von britischen Wissenschaftern und förderte zutage, dass jene Probanden, die während eines Spiels einen Radhelm trugen, ungleich größere Risiken eingingen. Die andere wurde an einer US-Universität durchgeführt und belegt, dass helles Licht unsere Emotionen verstärkt. Sachliche Entscheidungen, so fanden die Forscher heraus, würden eher bei schummriger Beleuchtung getroffen werden.

 

„Der Mensch ist einfach nicht absoluter Herr seiner Entscheidungen.“

 

Bevor Sie sich nun die Frage stellen, ob das Tragen eines Radhelms im Straßenverkehr nicht doch ein erhebliches Gesundheitsrisiko ist oder ob Sie im Klassenzimmer in Zukunft die Rollläden herunterlassen sollten, sollten wir uns jedoch eines gewärtigen: Der Mensch ist einfach nicht absoluter Herr seiner Entscheidungen, ganz gleich, wie lange wir sie begrübeln, wie gut wir sie vorbereiten, wie oft wir darüber schlafen und wie viele Freunde wir um Rat bitten.

Druck raus!

Es spielen immer Faktoren hinein, die wir nicht beeinflussen können, von denen wir nicht einmal etwas wissen. Folglich gibt es nicht die eine optimale Entscheidung. Das ist zwar schlecht für den Rationalisten und Perfektionisten in uns. Tatsächlich aber nimmt uns diese Erkenntnis vor allem eines: den Druck, der uns angesichts so mancher Entscheidung verzweifeln lässt.

Das ist übrigens kein Aufruf zur Kapitulation vor den Zeitläuften, sondern ein Sensibilisieren dafür, dass es nicht die einzige, ewige Festlegung gibt – für die wir dann allein die Verantwortung tragen. Die Entscheidung, das anzuerkennen, ist schon einmal eine gute Grundlage, um möglichst gute Entscheidungen zu treffen. Also: Druck raus!

 

„Bei Entscheidungen geht es darum, Bauch, Herz und Hirn in Einklang zu bringen.“

 

Schließlich sind wir nicht bloß Verstand, sondern auch Gefühl, ein Patchworkwesen, das erstaunliche Gegensatzpaare in sich birgt: Intuition und Planung, Erfahrung und Spontaneität, Egoismus und Altruismus, Über-Ich und Unbewusstes, und, ja, Erschaffung und Zerstörung.

Doch wer behält in diesem Ringen die Oberhand? Kopf oder Emotion? Darüber stritten schon die Philosophen im antiken Griechenland. Während Platon im Verstand die höchste Instanz für menschliches Denken und Handeln sah, wies ihm sein Schüler Aristoteles die Rolle zu, die Leidenschaften in die richtigen Bahnen zu lenken.

20.000 Entscheidungen pro Tag

„Jeder kann wütend werden, das ist einfach“, ist in seiner Nikomachischen Ethik nachzulesen, „aber auf den Richtigen wütend zu sein, das im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck, auf die richtige Art, das ist schwer“. Was wie ein früher Social-Media-Leitfaden klingt, ist nicht zuletzt ein Hinweis, worum es bei Entscheidungen geht: Bauch, Herz und Hirn in Einklang zu bringen.

20.000 Entscheidungen trifft ein Mensch durchschnittlich am Tag, 6.000, das haben Wissenschafter hochgerechnet, ein Lehrer an einem Unterrichtstag. Beim überwiegenden Teil müssen nicht zuerst Gefühl und Hirn in Einklang gebracht werden, dafür gibt es Automatismen und Erfahrungswerte.

Wie viel Zahnpasta man am Morgen auf die Bürste drückt, welche Seite im Schulbuch aufgeschlagen wird und welches Thema behandelt wird, wann die nächste Pause ist – all das basiert auf vertrauten und bewährten Routinen.

 

„Wer wählen muss, büßt einen Großteil seiner geistigen Leistung ein.“

 

Dieses System reduziert nicht nur die Zahl der Entschlüsse auf ein Minimum und hilft Zeit zu sparen, sondern hält vor allem Rechnerkapazitäten frei: Denn wer wählen muss, büßt einen Großteil seiner geistigen Leistung ein, wie eine Studie an der University of Minnesota nachgewiesen hat.

Bei einem Experiment sollten sich Studenten auf einen Test vorbereiten, hatten davor aber eine komplizierte Kursauswahl zu absolvieren. Schon schnitten sie im Vergleich zur Kontrollgruppe schlechter ab. Entscheidungen sind also vor allem: mühsam.

Zellkern der Demokratie

Dennoch können wir nicht genug haben, sei es als Bürgerin und Bürger, bei der Berufs- und Partnerwahl oder vor dem Regal im Supermarkt.

Entscheiden zu dürfen gilt vor allem als das Kriterium schlechthin für Freiheit. Eine Wahl zu haben ist gewissermaßen der Zellkern der Demokratie und damit unseres Zusammenlebens. Dennoch scheint es, als würden 70 Jahre nach dem Niederringen einer monströsen Diktatur politische, gesellschaftliche, aber auch persönliche Entscheidungen immer mehr zur Plage werden.

 

„Jede Entscheidung für etwas bedeutet Verzicht auf potenziell zig Alternativen.“

 

Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, die Freiheit der Kunst, Medien und Meinung, die Freiheit, jede Ausbildung zu belegen, jeden Beruf zu ergreifen – all diese Werte drohen im Sog einer Entwicklung verschüttzugehen, die von der Philosophin Hannah Arendt bereits vor Jahrzehnten als „Tyrannei der Möglichkeiten“ bezeichnet wurde.

Der Aufstieg dieser „Multioptionsgesellschaft“, so der Schweizer Soziologe Peter Gross, würde uns ein Übermaß an Wahlmöglichkeiten eröffnen, die es uns immer schwerer machen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Beide Befunde stammen aus einer Zeit, in der es noch kein Internet, keine Social-Media-Kanäle gab, diese flirrenden Multioptionsaggregatoren, die uns via Smartphone unendlich viele Möglichkeiten an die Hand geben.

Eine rasche Diagnose von Doctor Google? Ein neues, prickelndes Date via Tinder? Der günstigste Drucker, schnell recherchiert im Vergleichsportal? Schier unendliche Möglichkeiten, ja Freiheiten, tun sich mit einem Klick auf. Allein: Jede Entscheidung für etwas bedeutet Verzicht auf potenziell zig Alternativen.

Mehr Möglichkeiten, größerer Verlust

Hätte man nicht noch ein wenig länger recherchieren sollen, um dem Wehwehchen auf den Grund zu gehen? Ist das aktuelle Tinder-Date schon die große Liebe, oder wartet der Partner für die Ewigkeit bloß drei Selfies weiter? Und ist der günstig erstandene Drucker am nächsten Tag vielleicht nicht noch ein wenig günstiger?

 

„Menschen hassen Verluste, auch die potenziellen.“

 

Das Dilemma mit so viel Freiheit: Je mehr Möglichkeiten man hat, umso größer wird der Verlust. Einfaches Beispiel: Wenn wir uns auf einer Speisekarte mit zehn Gerichten für eines entscheiden, verzichten wir auf neun Alternativen.

Doch bei einer Karte mit hundert Speisen sind es gleich 99 Verheißungen, denen wir entsagen müssen. Es soll nicht nur Foodies geben, die sich deswegen in eine Sinnkrise stürzen. Und schon geht die Angst vor der Verlustangst um.

Menschen hassen Verluste, auch die potenziellen. Darum halten sie sich so lange wie möglich alle Türen offen, obwohl sie eigentlich wissen, dass sich dadurch nichts ändert. Gleichzeitig führt die vermaledeite Multioptionalität, wie Psychologen und Soziologen belegen, oftmals zu Stress, Unzufriedenheit und Fehlentscheidungen.

Verstand vs. Emotion

Wir sollten uns also vor einem kniffligen Entschluss nicht nur in Erinnerung rufen, dass wir irrationale Wesen sind, in denen Verstand und Emotion fröhlich Sträuße ausfechten, während wir versuchen, den Meinungen und Erwartungen anderer gerecht zu werden.

Wir sollten uns auch erlauben, bewusst Türen zu schließen. Einfach so. Fokussierung nennen das die Profis. Und ja, Sie verpassen ein paar Optionen. Aber warum nicht, wenn das, was Sie gerade gewählt haben, einfach glücklich macht? Jede Entscheidung für EINE Sache ist eine gegen VIELE Alternativen. Und zwar Ihre ganz individuelle. Gut so!

 

„Wir sollten uns auch erlauben, bewusst Türen zu schließen. Einfach so.“

 

Und das nicht zuletzt, weil die meisten Entscheidungen ein Ablaufdatum haben, sich ändern, optimieren, an eine neue Lebenssituation anpassen lassen. Es ist diese Endgültigkeit, mit der selbst unwesentliche Entschlüsse aufgeladen werden: „Es gibt kein Zurück, wenn ich mich einmal entschieden habe.“ Bloß stimmt das einfach nicht.

Selbst die großen Dinge, Entscheidungen für eine Ausbildung, ein Studium oder einen Arbeitgeber, lassen sich korrigieren, sie sind nicht ein „Taumeln am Abgrund“, wie Chef-Existenzialist Jean-Paul Sartre das einst beschrieben hat.

Schließlich verlaufen die wenigsten Karrieren linear, kaum eine bessere Schriftsteller-Biografie kommt heute noch ohne die Angaben „Taxifahrer“ oder „Totengräber“ aus.

Eine Wette auf die Zukunft

Das rigide Festhalten an langfristigen Entscheidungen bedeutet nämlich auch, dass wir uns Chancen nehmen, an Kreuzungen zu kommen, die uns wieder eine Möglichkeit geben, neue Pfade einzuschlagen.

Eine getroffene Wahl ist immer eine Wette auf die Zukunft, die wir immer erst später, mit Blick auf unsere Vergangenheit, bewerten können. Versuchen Sie einmal, eine für Sie schwerwiegende Entscheidung – die Trennung von einem Partner, einen Jobwechsel – aus einem Zeitabstand von zehn Tagen, zehn Monaten oder von zehn Jahren zu beurteilen.

 

„Es gibt sie einfach nicht, die absolut richtigen, end- und letztgültigen Entscheidungen.“

 

Was nach einigen Tagen in Ihnen vielleicht das Gefühl von Befreiung ausgelöst hat, erweist sich nach Jahren möglicherweise als Irrtum. Oder umgekehrt.

Kurzum: Es gibt sie einfach nicht, die absolut richtigen, end- und letztgültigen Entscheidungen. Vielmehr geht es darum, was wir daraus machen – und vor allem um die Bedeutung, die wir ihnen zuschreiben. Die kann nur jeder für sich ermessen. In diesem Sinne: Entscheiden Sie selbst!

 

Mehr zum Thema

Schwerpunkt Entscheidungen, 1: Handys im Unterricht: Mit oder ohne?
Schwerpunkt Entscheidungen, 2: „Smartphones gehören zu unserer Lebensrealität“

 

Ein Beitrag aus dem Was jetzt-Magazin, Ausgabe 2/18

 

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