Bildung und Beruf
Flüchtlingsprojekt: Fit für Job und Leben
Mit dem BMHS-Projekt „Übergangsstufe“ soll jugendlichen Flüchtlingen der Einstieg ins Berufsleben erleichtert werden. Eine Gesprächsrunde mit Schülerinnen und Schülern war Anlass für eine Zwischenbilanz.
Von Fred Burda und Christopher Mavric (Fotos) - 14. März 2018
Es war ein dämmriger Tag im vergangenen Herbst, als mich einige Schülerinnen und Schüler im Stadtschulrat für Wien aufsuchten. Neugierig warteten sie, um mir in vertrauter Runde von der sogenannten Übergangsstufe zu erzählen, jenem Lehrgang, der an ausgewählten berufsbildenden mittleren und höheren Schulen in ganz Österreich eingerichtet wurde, um schulpflichtigen Flüchtlingen den Einstieg in das Schulsystem und damit in die Berufswelt zu erleichtern.
Die Jugendlichen, die sich an diesem Tag mit Lehrerinnen und Lehrern aus einigen der beteiligten Wiener Bildungseinrichtungen, der HAK/HAS Donaustadt, den Schulen des BFI sowie der HTL Leberstraße, einfanden, hatten viel zu berichten. Vor allem, wie sie einst als „unbegleitete Jugendliche“ ins Land kamen und darauf hofften, von den Lehrkräften der teilnehmenden Schulen für das Unterrichtsprojekt Übergangsstufe ausgewählt zu werden.
Berufswahl ohne Worte
Allein schon das Auswahlverfahren erforderte eine gewisse Kreativität. Da aufgrund der muttersprachlichen Vielfalt alle Kommunikationswege zusammenbrachen, wurden den Bewerbern beim ersten Kennenlernen Fotografien jener beruflichen Tätigkeiten vorgelegt, die sie anstreben konnten. Büroberufe waren da selten dabei, meistens Handwerke aus den Bereichen Bau, Holzverarbeitung, Kfz oder Gartenpflege. Es waren Hunderte, die in diesen Gesprächen ihre Chance suchten. Die Ziele waren hochgesteckt, und es fanden sich viele Pädagoginnen und Pädagogen, die an diesem Projekt teilnehmen wollten.
Die im Schuljahr 2015/16 erstmals eingerichtete Übergangsstufe ist ein knapp einjähriger Lehrgang mit 31 Unterrichtsstunden pro Woche, der für junge unbegleitete Migranten konzipiert wurde. Neben dem Erlernen der deutschen Sprache soll ein rascher Einstieg in Englisch, Mathematik, Geografie, Geschichte, Wirtschaft und Naturwissenschaften gewährleistet werden.
Daneben gibt es die Wahl zwischen den Schwerpunkten Gastronomie, Technik oder praktisches Wirtschaften. Englisch wurde vorausgesetzt, um mithilfe dieser Brückensprache den Einstieg in eine berufsbildende Schule zu ermöglichen, sei es als außerordentlicher Schüler oder nach positivem Abschluss des achten Schuljahres auf dem Externistenweg.
Auf dem Weg in eine neue Gesellschaft
Nicht immer war es leicht, das, was auf dem geduldigen Papier des Lehrplans niedergeschrieben wurde, mit dem Unterrichtsalltag in Einklang zu bringen. Als entscheidend für die soziale Balance und Ausgewogenheit erwiesen sich die Mädchen in der Klasse. Vor allem die Teilnahme der jungen Migrantinnen wirkte sich positiv auf den Unterricht aus, dementsprechend gut waren die Lernerfolge insgesamt.
Da wäre etwa Meryem, die Tochter eines irakischen Arztes oder Khaliqdad aus Afghanistan, der nun in eine Abendhandelsakademie geht. Auch der Iraner Obaidullah besucht mittlerweile eine Handelsschule – sie alle sind auf dem Weg in eine neue Gesellschaft.
Flucht über die Türkei und Griechenland
Ali Reza, ebenfalls junger Iraner, erzählt an diesem Nachmittag von seiner Flucht. Wie er, der junge Musiker, als „regimekritischer Rapper“ in seiner Heimat im Gefängnis landete. Zu Fuß floh er in die Türkei, wo er als Tischler arbeitete und so Geld für eine Passage nach Griechenland verdiente. Weiter ging es mit dem Zug, zu Fuß, bis er Schleppern in die Hände fiel. Auf abenteuerlichen Wegen kam er schließlich nach Österreich. Jetzt besucht er hier eine Schule und erzählt mir in seiner neuen Sprache über seine Odyssee.
„Wir dürfen nicht so umständlich sein,
lernen wir gleich gut Deutsch.“
Für die jungen Flüchtlinge ist Deutsch die verbindende Sprache. Vorbei die Zeiten, als sie zuerst das Arabische ins Englische und das wiederum in ein anfänglich holpriges Deutsch übersetzen mussten. „Wir dürfen nicht so umständlich sein, lernen wir gleich gut Deutsch“, so der Tenor der jungen Menschen. Und einer ergänzt: „Wir haben viele Schüler kennen gelernt, die alle aus Wien waren, aber unterschiedliche Muttersprachen beherrschen. Deutsch war da überlebenswichtig, sonst geht nix.“
Eine der Lehrerinnen, welche die Gruppe begleitet, verweist auf das Peer-System, das sich besonders bewährt habe. „Diese Migranten sind schon erfahren, haben die Phase des Fußfassens in Österreich schon hinter sich und konnten unsere Schüler auf ihre neue Umwelt vorbereiten.“
Viele der Absolventen, erzählt sie, würden nun in Standardklassen kommen, wo sie nach wie vor einer starken Förderung bedürfen, vor allem in Deutsch. „Aber in anderen Gegenständen zeigen sie schon sehr respektable Leistungen.“
Soziale Vernetzung gegen Depression
Ganz allgemein funktioniert die Übergangsstufe – darüber sind sich alle in der Runde einig – nur dann gut, wenn die Zusammenarbeit mit den Betreuungsorganisationen wie etwa Caritas, SOS-Kinderdorf, Fonds Soziales Wien oder dem Samariterbund funktioniert. Die Kooperation mit den Trägern bzw. den unterbringenden Familien trägt ganz entscheidend zum Gelingen des Projekts bei.
Hilfreich war vor allem die elektronische Vernetzung mit Sozialarbeitern via soziale Medien oder E-Mail-Gruppen. Nicht zuletzt in Krisensituationen, etwa wenn Jugendliche umziehen oder aufgrund gesetzlicher Vorgaben das Bundesland verlassen mussten, konnte über diese Kanäle unbürokratisch Rat eingeholt werden. Rasch wurden so auch Übergangslösungen gefunden, um die Jugendlichen weiter zu fördern und ein Abgleiten ins gesellschaftliche Abseits zu vermeiden.
„Für die, die nur ihre Zeit
in Unterkünften absitzen,
bleibt doch nur mehr die
große Depression.“
Bemerkenswert war während unseres Treffens, wie die Migrantinnen und Migranten sich selbst, ihr Bild in der österreichischen Gesellschaft wahrnehmen.
Alle in der Runde sahen die Problematik ihrer Schicksalsgenossen, die keinem geregelten Schulbesuch nachgehen und nur zweimal pro Woche einen Deutschkurs besuchen können. „Wie sieht die Zukunft dieser Menschen aus, die ihre Zeit in den Unterkünften absitzen, mit niemandem reden können, die sogar ihr Interesse an sportlicher Betätigung verlieren? Für diese bleibt doch nur mehr die große Depression“, so ein Teilnehmer des Lehrgangs.
Enorme Hilfsbereitschaft
Erkennbar war in unserem Gespräch, dass die Hilfsbereitschaft der jungen Menschen untereinander enorm ist. Auch der Altersunterschied in den Lehrgangsklassen wirkte sich nicht negativ aus, ganz im Gegenteil, die Kooperation zwischen Älteren und Jüngeren war bemerkenswert. Mehr als bemerkenswert war indes der Einsatz und das pädagogische Engagement der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer.
Vieles müssen die jungen Migrantinnen und Migranten auf ihrem Weg noch erlernen. Gerade aber durch ihre Teilnahme an unser aller Leben, davon bin ich überzeugt, leisten diese Menschen einen Beitrag, dass unsere Gesellschaft neu zusammenwächst.
Junge Flüchtlinge mithilfe der Übergangsstufe zur Berufsfähigkeit zu führen, ist ein Beitrag zur Integration dieser Menschen in unserem Land. Und nicht zuletzt eine Chance, junge Migrantinnen und Migranten auf ihrem Weg in unsere Gesellschaft zu begleiten.
ZUR PERSON
Autor Fred Burda ist Landesschulinspektor für berufsbildende mittlere und höhere Schulen in Wien.
„Aufwändig, herausfordernd und bereichernd“
Das Lehrgangs-Projekt im Überblick
Nach der Flüchtlingsbewegung des Jahres 2015 wurden in allen Bundesländern sogenannte Übergangsstufen eingerichtet. Zielgruppe sind junge Migranten, die zumindest Englisch-Grundkenntnisse vorweisen. In einem eigenen, einjährigen Lehrgang in berufsbildenden mittleren und höheren Schulen werden die Teilnehmer in Deutsch unterrichtet sowie auf den späteren Besuch einer berufsbildenden Schule oder eine Lehre vorbereitet.
Der Lehrplan wurde unter Federführung der zuständigen Sektion im BMBWF entwickelt. Die Teilnahme aller Pädagoginnen und Pädagogen ist freiwillig, die Stunden werden aus einem Extrabudget bezahlt.
Viele der eingesetzten Lehrer erachten das Projekt nach mittlerweile drei Jahren Laufzeit als „bereichernd“, so auch Magdalena Leikermoser, Jahrgangsleiterin der Übergangsstufe an der HAK/HAS Wien Donaustadt. „Ich bin beeindruckt, was die Schülerinnen und Schüler in dieser kurzen Zeit geschafft haben.“
Viele Ehemalige, sagt sie, würden sich mittlerweile auf die Matura oder ein Studium vorbereiten. Zwar seien die letzten Jahre „die aufwändigsten und herausforderndsten meiner Unterrichtslaufbahn gewesen, persönlich habe ich aber sehr viel zurückbekommen“, sagt die Deutsch- und Italienischlehrerin.
Sechs Standorte mit knapp 130 Teilnehmern gibt es zur Zeit in Wien, bundesweit nehmen 54 Schulen an dem Projekt teil. Nach dem ersten Ansturm unmittelbar nach Beginn der Flüchtlingskrise nimmt die Zahl der angebotenen Plätze mittlerweile ab.
Nachdem etwa in Vorarlberg 2015/16 noch 200 Flüchtlinge unterrichtet wurden, gibt es aktuell nur noch zwei Übergangsstufen. In der Steiermark werden trotz des Rückgangs noch immer 270 junge Migrantinnen und Migranten an elf Schulen unterrichtet. Gingen die meisten Schüler anfangs noch unmittelbar nach ihrer Ankunft in die Übergangsstufe, nimmt mittlerweile die Zahl jener zu, die bereits eine NMS besucht haben.
In Oberösterreich (2016/17: 245 Teilnehmer) wertet man die Übergangsstufe als Erfolg, fast zwei Drittel aller Absolventen würden mittlerweile in einer weiterführenden Ausbildung stehen.
Ein Beitrag aus dem Was jetzt-Magazin, Ausgabe 1/18