Schwerpunkt: Online-Lernen
Große Befragung: Deutschland und Schweiz – so machen’s die Nachbarn
Eine große Befragung hat die Erfahrungen mit dem Online-Lernen in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht. Wir haben mit Expertinnen aus unseren beiden Nachbarländern gesprochen.
Von Florian Bayer - 28. April 2020
Wie geht es Lehrenden und Schüler/innen mit dem Online-Lernen, welche Herausforderungen gibt es für das Schulsystem? Diesen Fragen widmet sich der soeben erschienene, 140-seitige Bildungsreport „COVID-19 und aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung“.
Das Schulbarometer basiert auf insgesamt 7.100 wissenschaftlich durchgeführten Befragungen von Schulleiter/innen, Lehrenden, Schulmitarbeiter/innen, Eltern und Schüler/innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir geben einen Überblick über die Ergebnisse und haben mit Expertinnen aus unseren Nachbarländern über die dortige Situation gesprochen.
Große Belastung
Die Herausforderung ist für alle drei Länder groß, wie die neue Publikation und auch die von Was jetzt befragten Expertinnen bestätigen.
Allen voran für die Schüler/innen: 52 Prozent der im Schulbarometer befragten Schüler/innen antworteten auf die Aussage „Ich persönliche fühle mich von der aktuellen Situation stark belastet“ mit „trifft zu“ oder „trifft eher zu“. Aber auch bei den befragten Schulleitungen sind es 49 Prozent, die so antworteten.
Auch der Lern- und Arbeitsaufwand wird in allen drei Ländern als hoch eingestuft, viele sehen die jetzige Krise aber als Chance für die Digitalisierung. Immerhin auch 33 Prozent der befragten Schüler/innen gaben an, sich auf andere Lernweisen und Lernmethoden zu freuen. 29 Prozent meinen gar, jetzt mehr zu lernen als im normalen Unterricht.
Versäumnisse der Vergangenheit
Viele Lehrende, auch das zeigt der Report, sind aber auch zum ersten Mal gezwungen, sich mit dem Online-Lernen auseinanderzusetzen. Dementsprechend gehen auch die Berichte über Lernformen, Arbeitsaufwand und Qualität der Schüler-Lehrer-Kommunikation nun auseinander.
„Einige Schulen waren schon recht weit in der Digitalisierung und konnten jetzt gut umstellen. In der Fläche in Deutschland war das aber nicht gegeben, was sich in Zeiten des Fernunterrichts nun bemerkbar macht“, sagt Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn.
„Einige Schulen waren schon recht weit in der Digitalsierung.
In der Fläche war das aber nicht gegeben.“
Birgit Eickelmann, Universität Paderborn
Auch in der Schweiz sei die nötige Infrastruktur noch längst nicht überall vorhanden, sagt Claudia Fischer, Leiterin der Beratungsstelle Digitale Medien in Schule und Unterricht an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Unzureichende Ausstattung
Im nun veröffentlichten Report berichten 45 Prozent aller befragten Schulen von unzureichender technischer und/oder personeller Ausstattung für die Online-Lehre. In der Schweiz stehen entsprechend den Befragungen signifikant mehr, in Deutschland signifikant weniger technische Ressourcen zur Verfügung als in Österreich.
Noch mehr als auf die neuesten Geräte komme es aber auf die digitale Kompetenz an, sagt Fischer: „Es ist eine Sache, ob man die Klasse auf Moodle Arbeitsaufträge lösen lässt oder ob es tatsächlich um die Lehre neuer Inhalte geht. Analoger Unterricht ist nicht so ohne Weiteres auf den digitalen Raum übertragbar.“
Längst nicht alle Schweizer Lehrenden hätten schon diesbezügliche Erfahrungen, berichtet Fischer. Immerhin habe der Bereich Medien und Informatik im aktuellen Lehrplan aber ein größeres Gewicht erhalten.
Wahrnehmung des Lernaufwands
Auch bei den Schülerinnen und Schülern gibt es sehr unterschiedliche Ergebnisse, wie die aktuelle Situation wahrgenommen wird. So gibt es etwa große Unterschiede bei der täglichen Lernzeit.
83 Prozent der befragten Schüler/innen sagen etwa, dass sie derzeit mehr Zeit fürs Lernen aufwenden als normalerweise. 17 Prozent gaben aber auch an, dass sich die jetzige Zeit wie Ferien anfühle. Die Wahrnehmung der aktuellen Situation klafft also sehr auseinander, nicht wenige sind auch überfordert vom oft hohen Workload auf den Lernplattformen.
„Die einen finden es gut, in ihrem eigenen Lerntempo und -rhythmus selbstbestimmter zu arbeiten, sie lernen nach eigenen Aussagen jetzt effektiver, kommen gut mit der Situation zurecht. Die anderen haben Probleme, u.a. im Hinblick auf die Strukturierung ihres Tages, ihre Aufgaben und ihre Motivation“, heißt es dazu im Report.
Psychosoziale Belastung
Ein wichtiges Thema in allen drei großen deutschsprachigen Ländern ist die psychosoziale Belastung, die viele Kinder durch die aktuelle Situation erleiden. Auch weil die Klasse eine geschützte Umgebung ist, ist es für viele Kinder wichtig, zurück in die Schulen zu kommen und ihre Lehrenden, aber auch ihre Klassenkolleg/innen zu sehen.
„Ich fürchte, dass die Situation zu Hause für viele sehr schwer ist. Ich habe von einem Fall gehört, wo ein Vater das Kinderzimmer als Arbeitszimmer umfunktioniert hat. Der Schüler musste dann von der Küche aus arbeiten“, berichtet Fischer. Solche Fälle gebe es wohl viele.
„Ich fürchte, dass die Situation zu Hause für viele sehr schwer ist.“
Claudia Fischer, PH FH Nordwestschweiz.
Deshalb sei es wichtiger, auf den psychischen Zustand der Kinder zu achten, als möglichst viel Lernstoff unterzubringen, sagt Fischer. Auch solle man nicht davon ausgehen, dass die Eltern beim Lernen mithelfen können – eine Annahme, die ihrer Wahrnehmung nach bei vielen vorhanden ist. Die Ungleichheit beim Bildungsstand werde in der Schweiz jedenfalls zunehmen, vermutet sie.
Soziale Schere geht auf
Diesen Eindruck bestätigt auch der nun erschienene Report. „Insgesamt liegt die Vermutung nahe, dass es einen Schereneffekt gibt, bei Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie innerhalb und zwischen Schulen.“
Und weiter: „Wir gehen davon aus, dass sich in Krisensituationen verschiedene Schulqualitäten deutlicher auswirken, vorhandene Unterschiede sich noch vergrößern“, schreiben die Autorinnen und Autoren.
Um Schülerinnen und Schüler zu erreichen und zu motivieren, empfiehlt Fischer eine intensive Auseinandersetzung mit neuen Lernformen: „Zentral ist, dass der Unterricht abwechslungsreich und in wohldosierten Portionen stattfindet. Den vorherigen Stundenplan per Videokonferenz weiter durchzuziehen, ist wenig sinnvoll.“
„Wir gehen davon aus, dass (…) vorhandene Unterschiede sich noch vergrößern.“ (Covid19-Bildungsreport)
Sie ist froh über die große Schulautonomie in der Schweiz, die Lehrenden bei der Wahl der Lernformen weitgehend freie Hand lässt.
Neue Konzepte nötig
Wie der Report zeigt, fühlen sich Schulleitungen in der Schweiz generell besser informiert über die Aufgaben, die in den nächsten Wochen anstehen, als Schulleitungen in Deutschland und in Österreich.
Im deutschen Bildungssystem hingegen fehlt bisher der übergreifende Plan sowie die mittel- und langfristigen Umsetzungstrategien, sagt Eickelmann: „Ich teile die Einschätzung vieler, dass wir in den letzten Wochen viel stringenter an Konzepten für den Schulbereich hätten arbeiten müssen.“
Wenn die Schulen nach und nach wieder öffnen, müsse das Lernen und Lehren neu organisiert werden, sagt Eickelmann. Weil der genaue Fahrplan für die Schulöffnungen in Deutschland noch nicht feststeht, meint sie: „Für die nächsten Monate brauchen wir dringend Zuverlässigkeit und Sicherheit für die schulische Arbeit.“
Viele, nicht alle Lehrkräfte hätten sich nun in digital gestützte Lernformate eingearbeitet, sagt sie weiter: „Es wäre möglich gewesen, dies noch weiter auszubauen und nach der Osterzeit systematisch zu unterstützen. Das ist mancherorts gelungen, mancherorts wird nun wieder zurückgerudert. Oder man weiß gar nicht, was in den nächsten Wochen passieren wird“, sagt sie.
Diese Unterschiedlichkeit und die Unplanbarkeit aufgrund übergreifender Konzepte und fehlender Unterstützung für Schulen mache die Gesamtsituation in Deutschland derzeit sehr herausfordernd. Aber: „Im Moment läuft das, was gut läuft, weil viele Lehrkräfte und Schulen sehr, sehr engagiert sind.“
Das bestätigen auch die meisten befragten Eltern, die Lehrenden und Schulen ihre große Dankbarkeit aussprechen, so schnell auf die neue Situation reagiert zu haben.
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Ein Beitrag aus der Was jetzt-Redaktion.