Bildung und Beruf
„Natürlich haben Schüler das Recht, Lehrkräfte zu kritisieren“
Der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann findet, dass Lehrer sich mehr Feedback gefallen lassen müssen – sowohl online per App, wie auch im realen Leben. Auch Eltern sollen Kritik üben dürfen.
Das Gespräch führte Florian Bayer - 20. November 2019
Prof. Hopmann, was halten Sie von der neuen App, mit der Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkräfte beurteilen können?
Die Aufregung steht in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Neuerung. Solche Apps gibt es immer mal wieder, verbieten kann man sie nicht, denn im Prinzip ist alles von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Das Problem liegt woanders: In einem System mit funktionierender Feedbackkultur kann es einem als Lehrer doch völlig egal sein, wie er bewertet wird, denn das wäre man ja gewohnt.
Warum hat Feedback in der Schule einen so niedrigen Stellenwert?
In Österreich kommt das Schulsystem noch immer im Geist Maria Theresias daher, als von der Obrigkeit dem Volk geschenkte Maßnahme, die bitte nicht kritisiert werden soll.
Lehrerinnen und Lehrer tun sich oft auch schwer, wenn Eltern den Unterricht kritisieren – der gehe sie doch gar nichts an. Ein Irrglaube.
„Der Beruf des Lehrers steht genauso in der Kritik wie jeder andere auch.“
Im Schulsystem ist Feedback nicht fix verankert. Es gibt keine institutionalisierte Kultur dafür, dass alle Schulpartner ein legitimes Interesse haben, die Qualität in der Schule zu beurteilen und gegebenenfalls auf Veränderungen hinzuarbeiten. Das ist das Problem.
Die neue, mittlerweile offline geschaltete App wird unter anderem dafür kritisiert, dass Lehrer keine Dienstleister sind wie etwa Taxifahrer und Pizzalieferanten. Also dass Lehrer nicht zwangsläufig gefallen müssen.
Natürlich habe ich als Schüler das Recht zu kritisieren, was mir widerfährt. Natürlich habe ich auch als Elternteil das Recht zu kritisieren, was meinen Kindern passiert. Der Beruf des Lehrers steht genauso in der Kritik wie jeder andere auch, oder sollte es zumindest.
Ein weiterer Kritikpunkt: Oft werden nur dann Bewertungen gepostet, wenn Schülerinnen oder Schüler gerade eine besonders negative Erfahrung gemacht haben.
Es lässt sich online so wenig wie im wirklichen Leben vermeiden, dass das Leben ungerecht ist. All das, was in Kommunikation schiefgehen kann, kann natürlich online genauso schiefgehen wie im wirklichen Leben.
„Schüler beurteilen ihre eigene Leistung rücksichtsloser als viele Lehrkräfte.“
Manche kritisieren jetzt, ein Zwölfjähriger könne ja nicht beurteilen, was sein Lehrer bzw. seine Lehrerin tut. Natürlich kann er das, er muss es ja jeden Tag aushalten! Es gibt in der internationalen Forschung den Trend der „student voice“.
Man hat herausgefunden, dass Unterricht von Schülerinnen und Schülern viel genauer beobachtet wird als von Lehrkräften – Erstere haben schließlich viel mehr Vergleichsmöglichkeiten, haben sie doch fünf verschiedene Fächer und Lehrer an einem Tag.
Ist es nicht so, dass man oft über einen Lehrer schimpft und dann, lang nach der Schulzeit, sagt: Eigentlich war der gar nicht so schlecht?
Natürlich gibt es das. Die Forschung zeigt aber: Schüler sind ziemlich nüchtern und hart. Sie beurteilen ihre eigene Leistung rücksichtsloser, als viele Lehrkräfte das tun.
Erfahrungen mit ähnlichen Feedback-Apps aus Norwegen zeigen, dass es kaum Racheakte gibt. Vielmehr berichten Jugendliche, wie es ihnen hier und jetzt mit dem Unterricht geht.
Wenn einer schreibt, er verstehe kein Wort im Mathematikunterricht, ist das doch eine wichtige Information – egal ob man später denkt, es war der klügste Lehrer, den ich je hatte.
Was hat sich in den letzten Jahren verbessert?
Die Bildungsministerinnen haben schon einiges in Richtung mehr Feedback gemacht, aber das ist nie über Freiwilligkeit und lokale Maßnahmen hinausgekommen. Es gibt nach wie vor keine verbindliche Vorstellung, dass die Schulpartner ein berechtigtes Mitwirkungsrecht haben.
Wie kann sinnvolles Feedback aussehen?
Natürlich hat jedes System Vor- und Nachteile. Nur Smileys sind jedenfalls unbrauchbar. Öffentlich sichtbare Bewertungen ohne Antwort- und Korrekturmöglichkeit sind es ebenso.
„Ich bin ein begeisterter Anhänger von Kinder-Eltern-Lehrer-Gesprächen.“
Ein gutes System muss jedenfalls altersgerecht sein und in der ersten Klasse anders aussehen als in der achten. Man kann gar nicht früh genug beginnen. Erfahrungen etwa aus Australien zeigen, dass es wahnsinnig informativ ist, wenn Kinder ihre Pädagogen beurteilen.
Braucht es auch mehr Face-to-Face-Rückmeldungen?
Ich bin ein begeisterter Anhänger von Kinder-Eltern-Lehrer-Gesprächen. Wenn die ordentlich ablaufen, kommt da wahnsinnig viel heraus. Es gibt kein Vortäuschen mehr: Die Eltern können nicht behaupten, zuhause sei das Kind ganz anders.
Auch die Lehrkraft kann nicht irgendetwas erzählen, wie sich das Kind angeblich im Unterricht verhält, denn es sitzt daneben.
Jeder muss die Karten auf den Tisch legen und man kann sich auf kleine Schritte verständigen. Mit wenig Mitteleinsatz – vielleicht 20 Minuten – kann man so nachgerade Wunder bewirken.
Auch die Schülervertretung hat viel zu wenig Mitspracherecht. Wir würden keinen anderen Arbeitsplatz in einer demokratischen Gesellschaft dulden, wo den Arbeitnehmern so wenig Mitbestimmung zugestanden wird wie den Schülerinnen und Schülern.
Warum ist das so?
Einerseits weil man sagt, sie seien ja noch zu jung und können das nicht beurteilen. Andererseits wegen dem „Meine Klasse gehört mir“-Syndrom. Man hat vielerorts nicht begriffen, dass Schule ein sozialer Prozess ist, in dem sich alle gemeinsam verständigen müssen.
„Es gibt keine formalisierte Kultur des Miteinanderredens.“
Auch haben viele Eltern Angst vor Konsequenzen für ihr Kind, wenn sie etwas kritisieren. Als Elternvertreter erlebe ich sehr oft, dass Eltern mir schreiben: Kannst du mal mit Lehrerin xy reden, das geht so nicht weiter.
Meine Kritik wird zum Glück gehört, denn die Lehrer können mir nicht sagen, ich hätte keine Ahnung, wovon ich spreche.
Anderen Eltern aber sagt man, der Unterricht gehe sie gar nichts an. Das ist eigentlich traurig. Natürlich geht er die Eltern etwas an.
Wie äußert sich der fehlende Austausch?
Man zerreißt sich hinterrücks viel schlimmer das Maul, weil es vordergründig keine Möglichkeit gibt, darüber zu reden.
Das habe ich bei Schülern, bei Eltern, aber auch bei Lehrkräften erlebt, die keine Grenzen mehr kennen und verbal untergriffig werden. Auch das liegt vielleicht daran, dass es keine formalisierte Kultur des Miteinanderredens gibt.
Man muss sich auch rückbesinnen: Schule ist vorrangig für die Schülerinnen und Schüler da, nicht für die Lehrer. Es kann nicht sein, dass der Jobschutz für manche Lehrer höher wiegt als der Kinderschutz.
Sehen Sie Anzeichen einer Verbesserung?
Viele Kolleginnen und Kollegen versuchen an ihren Schulen, anders zu arbeiten, sie leisten tolle Arbeit. Oft hängen diese Initiativen aber an Einzelpersonen und sind nicht überlebensfähig, wenn diese Person wegfällt.
Und leider igeln sich viele Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Klassenzimmer ein und lassen nichts Neues zu. Das muss sich ändern.
Zur Person
Stefan Thomas Hopmann ist Professor für Schul- und Bildungsforschung am Institut für Bildungswissenschaften an der Universität Wien. Er beschäftigt sich empirisch und historisch mit vergleichender Schul- und Bildungsforschung, der Lehrerinnenbildung und der Didaktik.
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Ein Beitrag aus der Was jetzt-Redaktion.