HÖLZEL VERLAG
Clever & smart: Die Schulbücher von morgen
Die Digitalisierung hat die klassischen Lehrmittel und damit die Verlage voll erfasst. Smarte, interaktive Wissensplattformen gelten als die wichtigsten Impulsgeber. Fünf Thesen zum Schulbuch der Zukunft.
Von Thomas Rott und Tom Mackinger (Illustrationen) - 27. Februar 2018
1. Am Anfang war das Internet: Von der Diskette zu digi4school
Es war einmal in den späten 1990ern. Ja genau: im vorigen Jahrtausend. Das Internet findet seinen Weg nach Österreich. Der Internet Explorer 3.0 wird zum Maß aller Dinge. Und HTML ist super, weil man damit selbst Webseiten basteln kann.
Ein Lehramtsabsolvent (Deutsch und Geografie) unterrichtet in einem Hauptschulexternistenkurs. Der Bedarf an Übungsunterlagen ist groß, viel Unterrichtsmaterial muss selbst erstellt werden. Die Frage drängt sich auf, warum es diese Lehrmittel nicht im Internet als Zusatzangebot der Schulbuchverlage zu ihren Produkten gibt.
Der angehende Pädagoge verbeißt sich in diese Idee. Das World Wide Web findet er super, und Schulbücher oder zumindest digitale Ergänzungen zu ihnen gehören da rein. Also schreibt er die Verlage an, versendet Konzepte mit dem selbstbewussten Titel „Buch im Netz“ – ein wenig gewagt, damals wie heute. Und er bastelt einen Lernplattform-Dummy namens „School & Fun“. Der hat Platz auf einer 3,5-Zoll-Diskette, Speicherkapazität: 1,44 MB.
1998 wird aus dem Fast-Lehrer ein Mitarbeiter beim MANZ Schulbuchverlag im Bereich Lektorat und Neue Medien. In Zusammenarbeit mit der vom damaligen Arbeitskreis der österreichischen Schulbuchverleger gegründeten Marketing- und Online-Firma LISA (LehrerInnen InformationsSystem Austria), später eLISA, entsteht ab dem Jahr 2000 das Projekt SchulbuchPlus, das Zusatzmaterialien zu Schulbüchern im Internet verfügbar macht.
Das Projekt wird ausgebaut, weitere Verlage wie Veritas, Trauner und Helbling stoßen dazu. Gemeinsam mit dem Unterrichtsministerium und dem Fachverband Buch und Medien entwickeln die Verlage ab 2003 eine neue Plattform für ergänzende Online-Lehrmittel: Aus SchulbuchPlus wird SchulbuchExtra (SbX).
Technische Ausstattung ist hinterher
SbX verbessert Österreichs Positionierung im europäischen eGovernment-Ranking. Doch die technische Ausstattung an den Schulen hinkt hinterher, das Ticketsystem für die Registrierung ist zu kompliziert, und nicht alle Verlage nehmen die Content-Entwicklung ernst.
Ab 2015 wird SbX abgelöst durch das neue Projekt digi4school, bei dem es nicht mehr um digitale Zusatzmaterialien geht, sondern um die komplette Digitalisierung der Bücher. Jetzt also wirklich: Bücher im Netz!
2. Tools ohne Content: Vom Lernen auf Plattformen
Lernen und Lehren geht alle an: Schülerinnen und Schüler, Lehrende, Erziehungsberechtigte, Bildungspolitiker, Wissenschafter, Ausbildungskräfte, Nachhilfelehrer – um nur einige zu nennen. Sie alle haben unterschiedliche Aufgaben, Pflichten, Rollen, Interessen und stehen miteinander in Beziehung. Und rasch wird klar: Bereits das ganz normale Schulbuch ist keine individuelle Lektüre für eine einzelne Person, sondern ein Werkzeug für viele.
Noch viel mehr gilt das, wenn es um weitreichende Digitalisierungsprojekte geht: Lernplattformen oder Lernmanagementsysteme (LMS) wollen die komplexen Beziehungen, Prozesse und Aufgaben beim Lernen und Lehren nicht nur abbilden, sondern alle Beteiligten mithilfe digitaler Tools vernetzen und unterstützen.
Aufwändige Entwicklung
PLATO (Programmed Logic for Automatic Teaching Operations), entwickelt 1960 an der University of Illinois, gilt als Mutter aller digitalen Lernplattformen und Geburtsstätte von Foren, Online-Tests, E-Mail, Chats und Multiplayer-Spielen. Nach 40 Jahren jedoch scheiterte PLATO an den enormen Kosten der System- und Content-Entwicklung, gleichzeitig fehlte ein tragfähiges Geschäftsmodell.
Dennoch gab es um das Jahr 2000 einen wahren Boom in der Entwicklung von digitalen Lernangeboten, etwa Moodle, eine Plattform, die heute weltweit knapp 125 Millionen User versammelt. Dazu kamen Microsoft Classroom oder CourseWork der Stanford University sowie Edmodo, Google Classroom oder It’s Learning.
Eierlegende Wollmilchsäue
Doch so schlau und durchdacht diese E-Learning-Systeme auch sein mögen, sie müssen vor allem eierlegende Wollmilchsäue sein. So müssen User-Profile definiert und Klassen- oder Kursstrukturen abgebildet werden. Dazu kommen organisatorische und pädagogische Features wie etwa Stundenpläne, Kalender, Unterrichtsplanungen, Übungsphasen, Leistungsdokumentationen und Community-Angebote.
Und da reden wir noch gar nicht von anspruchsvollen Aufgaben wie der Optimierung des Angebots anhand der gewonnenen Nutzerdaten (Learning Analytics) oder der maßgeschneiderten Bereitstellung relevanter Informationen (Adaptive Learning). Beide Ansätze benötigen nämlich etwas, was es auf herkömmlichen Lernplattformen nicht gibt: umfangreichen, vorkonfigurierten und sich gleichzeitig an die Lernenden anpassenden Content, der mit den Funktionalitäten des Systems verzahnt ist.
Ansonsten kann es einem passieren, dass man nach einem Live-Videotutorial im Online-Chat sitzt und auf die Frage, ob es in dem tollen System auch Inhalte gibt, bloß die joviale Antwort erhält: „Nein, aber den kannst du ganz leicht selbst machen oder über unsere Schnittstellen einbinden!“ Ja, eh.
3. Lernen in kleinen Schritten: Große Hoffnung Microlearning
Digitalisierung führt zu Medienkonsum in kleinen Portionen. Das gilt auch für digitale Lernmedien und ist dort unter dem Begriff Microlearning bekannt. Gemeint ist eLearning in kleinen Lerneinheiten. Die Applikation registriert den individuellen Fortschritt und passt Inhalte und Wiederholungen an die bisher beantworteten Fragen an.
Microlearning ist eine maßgeblich von den Research Studios Austria, einer in Salzburg ansässigen Forschungs- und Vermarktungsplattform für universitäre Projekte, entwickelte Lerntechnologie für digitale Endgeräte. Seit 2003 ist Microlearning ein Forschungsschwerpunkt der Research Studios.
Schritt für Schritt
Das Produkt, das sich aus der Forschung des RSA entwickelt hat, ist die Lernlösung KnowledgeFox, die man 2012 zum gleichnamigen Spin-off machte, das Ende 2017 von der schwedischen Bonnier-Gruppe übernommen wurde. Mittlerweile schreiben sich viele Anbieter das Microlearning auf die Fahnen – eSquirrel, Brainscape oder phase6 sind nur einige Beispiele.
Die didaktische Grundlage des Microlearnings ist die sogenannte direkte Instruktion. Sie wurde in den späten 1960er-Jahren in den USA entwickelt und ist ein pädagogisch etablierter Begriff für das kleinschrittige Lehren einer kognitiven Wissensbasis mithilfe von Erklärungen, Übungen, Feedback und Kontrolle.
In John Hatties Metastudie „Visible Learning“ aus dem Jahr 2009 zu Wirksamkeitsfaktoren des Lehrens und Lernens hat die direkte Instruktion sehr gut abgeschnitten. In den 1960er-Jahren fehlten ihren Entwicklern aber noch die Möglichkeiten der Digitalisierung, die nun beim personalisierten Microlearning genutzt werden können.
Diese Methode verspricht eine Entlastung der Lehrer bei der personalisierten Wissensvermittlung. Dank der digitalen Lernhäppchen ist es möglich, relativ einfach und kostengünstig individuelle Inhalte in einer 1:1-Relation von Lehrmittel zu Lernendem zur Verfügung zu stellen. Somit können neue Freiräume für anspruchsvollere pädagogische Aufgaben geschaffen werden.
Das New Yorker Projekt Teach to One zeigt das Potenzial personalisierten Lernens in kleinen Schritten mit digitaler Unterstützung. Täglich erhalten 10.000 Schüler personalisierte Mathematikkurse auf ihre Computer, Tablets oder Smartphones. Regelmäßig wird überprüft, ob sie eine bestimmte Fertigkeit beherrschen, bevor sie zu fortgeschrittenen Materialien übergehen können.
4. Im Norden viel Neues: All Things digital
In letzter Zeit lässt sich in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden eine Tendenz zu neuartigen Digital-only-Angeboten im Lernmediensektor beobachten. Sie verbinden qualitätsgesichert vorkonfigurierte und dennoch vom User modellierbare Verlagsinhalte mit einfachen Lernmanagement-Funktionen und Elementen des Microlearnings. Sie haben nichts mehr mit Büchern, auch nichts mehr mit E-Books gemein.
Eines dieser Angebote ist Clio-online. Das Start-up wurde 2006 in Dänemark gegründet, im März 2015 erwarb die schwedische Bonnier-Gruppe eine Mehrheitsbeteiligung. In Dänemark läuft das Fachportal schon länger, vor Kurzem wurde das System in Schweden ausgerollt.
Variables Werkzeug
Clio-online bietet Zugang zu einem digitalen Planungstool, das es Lehrerinnen und Lehrern ermöglicht, Hausaufgaben zu veröffentlichen, Kurse und Unterrichtspläne zu erstellen und sie mit Kollegen zu teilen sowie mit dem nationalen Lehrplan abzustimmen.
Multimediale und interaktive Inhalte sind direkt mit einem einfach gehaltenen Lernmanagementsystem für die Klassenverwaltung und Lernfortschrittskontrolle verknüpft. Lehrkräfte können die Inhalte verändern oder neue einfügen. Die Angebote lassen sich zu einer Jahresplanung strukturieren oder zu eigenen Unterrichtsphasen zusammenstellen.
Individuell erweiterbar
Hinter den Angeboten steht ein Redaktionsteam, das bei aktuellen Ereignissen oder Lehrplanänderungen neue Texte und Aktivitäten entwickelt. Schüler können zwischen einfachen und schwierigen Textversionen wählen, eine Vorlesefunktion nutzen oder eine spezielle Dyslexie-Schriftart aktivieren. Für selbstständiges Microlearning gibt es interaktive Trainings, passend zu den Unterrichtsinhalten.
Ein weiteres Beispiel für diese neuartige Verbindung von hochwertigen, individuell anpassbaren Inhalten mit einfachen LMS-Funktionen sind die interaktiven Lehrwerke der schwedischen Nationalencyklopedin (NE). Dieser einstige Anbieter einer gedruckten Enzyklopädie hat sich zu einem breit aufgestellten Digital-Learning-Anbieter entwickelt, der im deutschsprachigen Raum unter der 2015 übernommenen Marke Brockhaus firmiert.
Unzählige Zusatzfunktionen
Auch mit den digitalen Angeboten von NE können Kurse individuell gestaltet, Lerneinheiten umsortiert, verändert, ein- oder ausgeblendet werden. Lehrer bestimmen, ob Lösungen oder Lösungswege für Schüler sichtbar sind oder nicht. Die Inhalte lassen sich individuell hervorheben, mit Anmerkungen ergänzen, und viele Zusatzfunktionen sind integriert: Wörterbücher, Vokabeltrainer, Enzyklopädie.
Den Anwendern scheint’s zu gefallen: Clio-online erfreut sich hoher Marktanteile in Dänemark, und auch in Schweden wird die Plattform gut angenommen – in jenem Land, in dem bereits drei Viertel der Schulen die digitalen NE-Services nutzen. Die Kosten liegen mit sechs bis acht Euro pro Schüler, Fach und Jahrgang unter jenen für Printbücher. Schulen werden großvolumige Abos mit langen Laufzeiten offeriert.
5. Blick in die Zukunft: Content 4.0 – Learning All in One
Wovon träumt er also, der Fast-Lehrer aus den 1990er-Jahren nach zwanzig Jahren Erfahrung in der österreichischen Schulbuchbranche und ein bisschen unterrichten zwischendurch? In seinem Kopf hat sich die Vorstellung festgesetzt, dass innovatives Lehren und Lernen gerade im Zeitalter der Digitalisierung hochwertige und neuartige Inhalte benötigt: eine lehrplankonforme, qualitätsgesicherte, nachhaltig gepflegte und von der Lehrperson flexibel modellierbare digitale Inhalte-Plattform.
Eine solche Contentbase könnte das Lehren und Lernen gleich mehrfach unterstützen und so ein „Learning All in One“ ermöglichen:
Lehrerinnen und Lehrer könnten aus spannenden, lehrplankonformen Inhalten auswählen und damit ihren Unterricht mithilfe eines individuellen, lebendigen Designs an die Bedürfnisse unterschiedlicher Lerngruppen anpassen.
Schülerinnen und Schüler könnten auf verschiedenen Geräten, überall, jederzeit, adaptives Microlearning nutzen, das zum Unterricht passt und ihnen als individuelle Lernhilfe zum Erwerb des Basiswissens in kleinen Portionen und im eigenen Lerntempo dient.
Österreich hat wieder eine Chance: Wir hatten SchulbuchPlus und SchulbuchExtra, wir hatten und haben die Schulbuchaktion und jetzt digi4school und die eEducation-Initiative. Wir könnten aus all diesen Kompetenzen, aus diesem Erfahrungsschatz, etwas Neues entwickeln, das die Möglichkeiten digitaler Lerninhalte tatsächlich nutzt und die österreichische Schulbuchaktion zu einer zukunftsweisenden Schulmedienaktion ausbaut.
Um diese innovativen Lernplattformen zu einem breiten Erfolg zu machen, ist jedoch mehr erforderlich als bloß das Engagement einzelner Verlage wie MANZ. Vielmehr bedarf es einer Zusammenarbeit der gesamten Branche und aller politischen Entscheidungsträger.
Ein Beitrag aus dem Was jetzt-Magazin, Ausgabe 1/18
ZUR PERSON
Thomas Rott ist Geschäftsführer des MANZ Schulbuchverlags. Auf seinen ersten Lernplattform-Dummy „School & Fun“ ist er noch immer stolz.